Say Watt?

Bollinger Motors B1 und B2

Wer den B1 oder B2 von Bollinger Motors sieht, denkt erst mal nicht an ein Elektrofahrzeug. Er fühlt sich erinnert an Jeep und Land Rover, Minimalgefährte mit maximalem Nutzwert, die im Zweiten Weltkrieg und kurz danach entstanden, weil so etwas in dieser schlechten Zeit eben gebraucht wurde

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Bollinger Motors B1 und B2 33 Bilder
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Florian Pillau
Inhaltsverzeichnis

Wer den B1 oder B2 von Bollinger Motors sieht, denkt erst mal nicht an ein Elektrofahrzeug. Er fühlt sich erinnert an Jeep und Land Rover, Minimalgefährte mit maximalem Nutzwert, die im Zweiten Weltkrieg und kurz danach entstanden, weil so etwas in dieser erst schlimmen, dann schlechten Zeit eben gebraucht wurde.

Die Firma Bollinger Motors erinnert an die Scheinblüte der Autoindustrie vor ziemlich genau 100 Jahren, als es plötzlich eine unglaubliche Anzahl winziger Startups voll kreativer Enthusiasten mit eigenem Kopf gab. Wegen der meist bescheidenen Mittel der Gründer fast alles Manufakturen. Heute verschreibt sich das finanziell offenbar gut gepolsterte Unternehmen, das Robert Bollinger gründete, dagegen ganz bewusst einer teuren Kleinserienfertigung. Die Kapazitäten sind ohnehin begrenzt, zunächst werden – der Nachfrage gehorchend – die Modelle mit langem Radstand als viertüriger Station Wagon und Pick-Up in der Produktion vorgezogen.

No-Nonsense

Wer weiß, was ein Geländefahrzeug ausmacht, erkennt, dass die Form von B1 und B2 weder Traditionspflege noch eine Anbiederung an uralte Modelle ist. Die Ähnlichkeit zu bereits existierenden echten Offroad-Fahrzeugen entsteht von selbst, wenn man einen ernsthaften Geländewagen baut. Die Amerikaner nennen so einen Ansatz „no-nonsense“. Abnehmbare Karosserieteile gehören dazu. Bei B1 und B2 kann man Türoberteile, die ganzen Türen und das Dach in Form von Segmenten (ähnlich wie beim Jeep Wrangler Liberty) einfach abnehmen und in der Garage lassen.

Bei den Möglichkeiten, die Elektrifizierung bietet, wäre es ein großer Fehler gewesen, sie nicht zu nutzen und einen Allradantrieb im traditionellen Sinne einfach nur mit einer E-Maschine zu versehen. Das hat vor ein paar Jahren aus naheliegenden Gründen zwar einmal zwar Land Rover mit dem Defender gemacht, doch Bollinger konnte ja auf einem leeren Blatt beginnen. Das Ergebnis überrascht nicht, je ein Elektromotor pro Achse spart Übertragungswellen und Endantriebe ein.

Schlüssigste Lösung

Nicht nur darin ist der B von seiner Konstruktion her streng genommen kein klassischer Geländewagen. Er hat rundum eine Einzelradaufhängung, was angesichts zentral angeordneter Elektromotoren aber die schlüssigste Lösung darstellt. Um damit genügend Bauchfreiheit zu bekommen, sitzen Radvorgelege in den Achsschenkeln – wie beim US-Militärfahrzeug HMMV („Hummvee oder Hummer H1“). Da beide Motoren auf Achshöhe liegen, bieten beide Modelle einen vorderen Kofferraum mit einer Durchlademöglichkeit über die gesamte Fahrzeuglänge. Beim B2 sind das 4877, beim B1 3962 mm bei geschlossener Heckklappe.

Die Radvorgelege bieten eine Reihe Vorteile – und einige Nachteile. So erreicht man durch die Zahnradkaskade im Gehäuse einen Versatz zwischen Antriebswelle und Radnabe. Bei einer Konstruktion nach den Regeln der Kunst trägt dieser vollständig zur Bodenfreiheit bei. Im Bollinger sind es satte 4,4 Zoll oder über 11 Zentimeter. Geschickterweise wird man die Kaskade als Übersetzung zwischen Antriebswellen- und Radnabendrehzahl nutzen.

Vervielfacht

Bei einer Übersetzung von 3 zu 1 beispielsweise verringert sich das Drehmoment, das die Antriebswelle übertragen muss um den Faktor 3. Sie kann damit bei gleicher Haltbarkeit deutlich zierlicher und leichter gebaut werden. Lässt man die Bremse auf die Antriebswelle wirken, vervielfacht sich durch die Übersetzung im Vorgelege deren Kraft – in unserem 3:1-Denkmodell verdreifacht sie sich. Bremsscheibe und Bremssattel kann Bollinger am Rahmen montieren, was die Bremse besser vor Schlamm und Staub schützen hilft und die ungefederte Masse verkleinert. Das kompensiert immerhin einen Teil des Gewichts durch die schweren Radvorgelege in den Achsschenkeln. Den Scheibendurchmesser gibt Bollinger mit 29,8 Zentimetern an.

Federung ohne Federn

Wer sich die Konstruktion ansieht, wird feststellen, dass die Federung ohne elastische Konstruktionshardware auskommt – sie nutzt stattdessen Gaspolster. Zur Bewegungsübertragung und zur Schwingungsdämpfung wird Öl verwendet. Es ist eine Hydropneumatik, ähnlich der, die Citroën erstmals 1955 einsetzte. Wie bei den französischen Autos kann der Fahrer im B die Bodenfreiheit regulieren. Gleichzeitig kann mit der Hydropneumatik sehr einfach eine lastabhängige Niveauregulierung umgesetzt werden.

Neues Antriebskonzept

Der Verzicht auf Stahlfedern bietet große Gewichts- und Raumvorteile. Die Membrandruckspeicher (Citroënisten nennen sie „Federkugeln“) lassen sich im Gegensatz zu einer Feder an einer beliebigen Stelle am Rahmen montieren, was den erwähnten Radvorgelegen mit ihren hoch liegenden Antriebswellen Platz schafft. Die Bodenfreiheit beträgt üppige 38 Zentimeter und soll sich zwischen 25,4 und fast unglaublichen 51 Zentimetern einregulieren lassen. Die Werte gelten mit der serienmäßigen Reifendimension 285/70 R17 entsprechend der in den USA gebräuchlichen Angabe 33/11.5 R17.

Das Beste aus der Einzelradaufhängung

Die Bauweise ohne Achsen hat mehr Nachteile als man auf den ersten Blick erkennt. Nicht nur dass Starrachsen grundsätzlich besser das Gewicht über alle vier Räder verteilen und damit länger die Traktion aufrecht erhalten können. Sie bringen auch das Differenzial beim einseitigen Einfedern „aus der Gefahrenzone“, es setzt nicht so leicht auf wie beim sogenannten Durchfedern in einem Fahrzeug mit Einzelradaufhängung. Dieser Gefahr entgeht Bollinger mit den Radvorgelegen und dem zwischen den Rahmenlängsträgern gut geschützten Antrieb. Bleibt lediglich der Nachteil verletzlicherer Antriebswellen, die ja bei Einzelradaufhängung noch ein zusätzliches inneres Gelenk und – ungeschützt im Freien verlaufend – auch noch zwei Gummibälge für die Gelenke benötigen.

Da diese im Gelände gern mal von Ästen oder Steinen geschlitzt werden, ist hier ein zusätzliches Augenmerk wichtig. Manschettenschäden unter Wasser können ein Wellengelenk sogar schnell unwiederbringlich zerstören. Eine Starrachse hingegen hat je Antriebswelle vorn nur ein Gelenk, hinten gar keins. „Acht zu zwei für die Starrachse“ könnte man sagen – dazu bietet sie noch eine feste Kapselung ohne Gummibälge. Doch Bollinger Motors hat konstruktionsseitig offenbar alles richtig gemacht, um das Beste aus der Einzelradaufhängung herauszuholen.

Say Watt? 120 kWh!

Zur festen Übersetzung durch das Getriebe am Motor und die Achsübersetzung kommt eine manuell schaltbare Geländeübersetzung, beide Differenziale sind sperrbar, falls dem Bollinger trotz der elektrisch entkoppelten Stabilisatoren an Vorder- und Hinterachse mal die Traktion ausgehen sollte. Über 905 Nm stellen die beiden Motoren an Drehkraft zur Verfügung, die Leistung gibt Bollinger mit „614 hp“ an, also 458 kW. Die Batterien mit 120 kWh sollen laut EPA-Fahrzyklus eine Reichweite von 320 Kilometern ermöglichen.

Sie liegen zu beiden Seiten der beiden Rahmenlängsträger unterhalb des Fußraums und werden per Kühlflüssigkeit über Wärmetauscher hinter den Scheinwerfern temperiert. An einem Schnelladegerät über einen CCS Stecker soll die Ladedauer bei 100 kW 75 Minuten betragen, an einer Haushaltssteckdose 10 Stunden. Eine Ladeleistung von 150 kW ist in der Entwicklung. Bollinger verteilt zudem 10 Steckdosen (an einem 15 kW-Inverter) über das Auto für elektrische Arbeitsgeräte mit 110 oder 220 Volt.

Kompakt gemessen an der Zuladung

Der Bollinger misst als B2 5270 (als B1 4356) Millimeter, ist 1961 mm breit und 1847 mm hoch. Der Radstand beträgt 3530 mm beim B2, 3017 mm beim B1. In normalhoher Federungsstellung ergeben sich 52 Grad vorderer, 28 Grad hinterer Böschungswinkel (43 beim B1) und ein Rampenwinkel von 25 Grad (30 beim B1). Die Spurweite beider Modelle liegt vorn und hinten bei 1681 mm. Damit ist der B2 nur ein bisschen größer als die japanischen 4WD-Pritschenwagen mit rund einer Tonne Zuladung, aber unter dem Niveau der meisten kompakten US-Pickup-Modelle.

Vielleicht Ihr letzter ...

3400 kg Anhängelast bei einem Eigengewicht von ebenfalls 2268 kg entsprechen den kompakten Pickup- oder Station Wagon-Modellen auf dem US-Markt, die Zuladung von 2268 kg beim B1 und 2359 kg beim B2 liegt jedoch rund beim Doppelten des Üblichen. Kein Wunder, die Fahrzeuge sind als „Class 3 medium truck“ homologiert, in der Gewichtsklasse von 4536 bis 6350 kg. Dort eingestuft sind Autos wie Isuzu NPR, Chevrolet Silverado/GMC Sierra 3500, Ford F-350, Ram 3500, Ford F-450 als Pick-Up. Die Pritsche des B2 misst 1220 mm in der Breite und 1524 mm in der Länge. Der vordere Kofferraum beider Modelle bietet 396 Liter Ladevolumen.

„This might be the last truck you’ll ever buy“

„Manufaktur“ hieß in den 1920ern „Handarbeit aus Not auf wackligem Qualitätsniveau“. Die meisten der damaligen Auto-Bastelbuden verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Um die meisten war es nicht schade. Heute steht Manufaktur für Handwerksqualität und hochwertige Materialien, also für Langlebigkeit und Nachhaltigkeit: „As far as pickup trucks go, this might well be the last truck you’ll ever buy“ behauptet Bollinger, also ungefähr, dass man nach einem B2 kein weiteres Auto mehr brauchen würde. So ein Konzept dürfte daher Landwirte und Hipster gleichermaßen ansprechen. Bollinger weiß das offenbar, feiert den Manufakturstil seiner Produktion mit fetischhaft-opulenten Bildern und bläst sie über alle Kanäle in die sozialen Medien hinaus.

Doch denkt man offenbar vor allem an Nutzanwender, was sich schon am Aufwand abzeichnet, der in der Technik steckt, aber auch in den FAQs. Hier heißt es auf die Anfrage „kann ich einen Schneepflug montieren?“ , dass jedes Modell serienmäßig darauf vorbereitet sei. Das ist nun insofern besonders bedeutsam als Schneepflüge den Rahmen besonders fordern, weil sie nicht nur schwer sind – sie bauen auch starke horizontale Schub- und Scherkräfte am Rahmen auf. Die Freigabe spricht insofern für die Robustheit des Rahmens.

Der B (welcher, geht aus der Website momentan noch nicht hervor) ist ab 125.000 Dollar in den USA bereits bestellbar, für eine Reservierung man wird gebeten, 1000 Dollar zu hinterlegen. Die Produktion beginnt 2020, die ersten Lieferungen sind für Anfang 2021 geplant. Klima- und Hifi-Anlage werden angeboten, auch eine Winde hinter der vorderen Stoßstange. Airbags werden allerdings nicht geliefert – lediglich die vorgeschriebenen Gurte.