Ausnahmefall

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Haar, 5. November 2015 – Die Entwicklung des durchschnittlichen deutschen Wohlstandes in den vergangenen 20 Jahren lässt sich an zahlreichen, technischen Begleitern ablesen: Ein Smartphone haben inzwischen viele, Fernseher sind groß und billig wie nie zuvor. Das gilt natürlich auch und gerade für Autos. Ein paar Tage im aktuellen Opel Corsa reichen aus, um manchen Trend in Frage zu stellen. Wir versuchen eine Annäherung mit einem 90-PS-Dreizylinder und klären dabei unter anderem, warum wir diesen ausgezeichneten Motor nicht kaufen würden und unser Durchschnittsverbrauch nicht repräsentativ ist.

Platz wie im Golf

Der Corsa E wirkt äußerlich wie ein Facelift seines seit 2006 gebauten Vorgängers. Ob das nun gut oder nicht ist, liegt sicher im Auge des Betrachters. Fakt ist, dass er ein paar Zentimeter länger wurde, was sich im Platzangebot nicht widerspiegelt, denn der Radstand blieb bis auf einen Millimeter gleich. Mit nun 4,02 m ist der aktuelle Corsa so lang wie ein VW Golf 3, in dem damals kaum einer das Raumangebot bemängelt hat. Der Opel ist vorn ausreichend luftig geschnitten, hinten fühlt es sich durch die kleinen Seitenscheiben enger an, als es ist. Durch die breite C-Säule ist auch die Rundumsicht schlecht, der Fünftürer dürfte hier mehr Ausblick bieten.

Das Cockpit wurde umfangreicher verändert als das Äußere. Ohne einen Meter gefahren zu sein zeigt sich schon an dieser Stelle ein Klassenunterschied zum Opel Karl oder – noch wesentlich eklatanter – einem VW Up: Dort wird einem an vielen Stellen täglich vor Augen geführt, in einem der günstigsten Neuwagen zu sitzen. Der Corsa wirkt viel hochwertiger und erinnert kaum noch an einen Kleinwagen. Die Materialauswahl ist in sich harmonischer als im VW Passat. Nirgendwo gibt es nebeneinander grobe Unterschiede zwischen nobel und billig. Dass der Deckel vom Handschuhfach und die Haltegriffe nicht weich zurück gleiten – geschenkt. Alles wirkt ordentlich zusammengesetzt und so solide, dass man dem Corsa ein jahrelanges Dasein ohne nervendes Verkleidungskonzert zutraut.

Das dicke Lederlenkrad empfehlen wir auch in den preiswerten Ausstattungen, wo es nicht serienmäßig ist. Mit maximal 160 Euro inklusive Tempomat ist es fair bepreist. Die Lenkradheizung hielt ich lange für Spielerei – im Testwagen war das aber sehr angenehm, auch, weil sie nach einiger Zeit etwas zurückregelte. Die einstufige Sitzheizung kennt dagegen nur grillen oder aus. Sie ist nichts für Leute, die gern am Lagerfeuer sitzen – sondern drin.

Sehr gut haben fast allen Fahrern die Sitze gefallen: Ausreichend dimensioniert und verstellbar, dazu mit stabilen Kopfstützen versehen, die sich auch für große Menschen ausreichend weit nach oben rücken lassen. Murks hat Opel aber anderer Stelle begangen: Der Gurt verläuft über das Rad der Lehnenverstellung. Unverständlich, wie so etwas in der Entwicklung nicht auffallen kann.

Geringe Trefferquote

Der Testwagen hatte allerlei Assistenten, von denen nicht alle überzeugen konnten. Die Warnungen vor Autos im toten Winkel und vor dem Verlassen der Spur hatte eine Trefferquote von geschätzten 60 Prozent – zu wenig, um sich darauf zu verlassen. Die Auffahrwarnung war wesentlich zuverlässiger, was auch für die Tempolimitanzeige gilt. Sie hatte allerdings ihre Probleme mit dem Erkennen von Ortseingangs- und Ausgangsschildern. Im Testwagen war ausnahmsweise das IntelliLink-System nicht eingebaut, wohl aber ein DAB+Tuner. Der ist zwar nicht sonderlich empfangsstark, klingt aber erheblich besser als der vergleichsweise dumpf tönende UKW-Tuner.

Der Corsa ist straff abgestimmt, wenn auch nicht so hoppelig wie der Karl. Der Testwagen war mit aufpreispflichtigen 16-Zoll-Felgen ausgestattet – gut möglich, dass er sich mit den serienmäßigen 15-Zöllern nachgiebiger gezeigt hätte. Auch in diesem Punkt wirkt der Corsa eine ganz Klasse erwachsener als der Karl. Wer es in Kurven übertreibt, und dazu animiert der Kleinwagen durchaus, bekommt das für Fronttriebler typische Untersteuern. Die Lenkung ist arm an Antriebseinflüssen, gibt auch nur spärliche Rückmeldung von der Straße.

Wie sehr sich die eingangs beschriebenen Verhältnisse verschoben haben, wird auch bei der Motorisierung deutlich. Ein Golf 3 galt mit 90 PS schon als gut motorisiert, heute wird in Foren diskutiert, ob ein ähnlich schwerer Corsa damit überhaupt noch von der Stelle kommt. Es geht, und zwar ganz ausgezeichnet. Manche Testwagen haben es schwerer als andere. Der Corsa musste, kaum in der Redaktion angekommen, richtig ran. An einem Sonntagmorgen wurde er von München nach Berlin gescheucht. Kaum eingebremst von Verkehr, Baustellen oder Wetter zeigte sich dabei nicht nur der Fortschritt gegenüber älteren Modellen, sondern auch hier der Unterschied zum Karl: Der Corsa ist ein vollwertiges Reiseauto. Auch bei höherem Tempo wird er nicht übertrieben laut. Mit reichlich Anlauf und etwas topografischer Hilfe waren laut GPS 188 km/h möglich – Opel verspricht 180 km/h.

Wichtiger dürfte jedoch sein, dass sich der Corsa mit dem Dreizylinder gerade bis hin zu mittleren Drehzahlen sehr lebendig anfühlt. Nach oben hin wird es merklich zäher, was durch die lange Übersetzung von Getriebe und Achse noch verstärkt wird. Der Dreizylinder mit 115 PS, der übrigens einen nahezu identischen Drehmomentverlauf hat, ist kürzer übersetzt.

Keine Sparsensation

Dreizylinder sind derzeit vor allem deshalb so in Mode, weil sie gegenüber einem vergleichbar großen Vierzylinder eine geringere Reibung und Vorteile beim Gaswechsel dank längerer möglicher Überschneidungszeiten versprechen, was dann im Idealfall zu einem geringeren Verbrauch führt. Über knapp 2200 Kilometer kamen wir auf 6,7 L/100 km, was durch die Tour nach Berlin nicht repräsentativ ist. Bei diesem Ausflug waren es rund 9 Liter, wobei der Tacho dabei, wo immer möglich und erlaubt, zwischen 170 und 180 km/h anzeigte. Ansonsten waren es rund 5,7 Liter, was keine Sensation ist: Ein Golf mit dem neuen 115-PS-Dreizylinder war in der Hand des Kollegen Schwarzer noch ein wenig sparsamer. Die Mehrheit der 90-PS-Corsa liegt übrigens auf Spritmonitor bei mehr als sechs Litern. Es bleibt so ein Beigeschmack in einem ansonsten sehr überzeugenden Antriebskapitel.

Bis hierher hätte sich der Corsa mit dem 90-PS-Dreizylinder eine Kaufempfehlung wahrlich verdient. Doch Opel macht die Entscheidung für diese Maschine wahrlich nicht leicht. Insgesamt sieben Kombinationen von Getrieben und Benzinern kämpfen innerhalb einer Spanne von 90 bis 115 PS um Kunden. Parallel zum Dreizylinder wird nach wie vor ein Vierzylinder mit 90 PS angeboten. Der ist weniger kräftig und im NEFZ durstiger, aber viel billiger. Er kostet in der frugalen Selection-Ausstattung ohne Start-Stopp-System 12.840 Euro, mit sind es 13.200. Im Dreizylinder ist das Start-Stopp-System stets serienmäßig, doch der Corsa kostet damit mindestens 14.480 Euro. In der empfehlenswerten Ausstattung „drive“ kostet der Vierzylinder 15.880, der Dreizylinder 17.160 Euro. Von unten bekommt der Dreizylinder also ordentlich Konkurrenz. Noch verrückter wird es bei einem Blick auf die stärkeren Motoren. Der 1,4-Liter-Vierzylinder mit Turbolader leistet 100 PS und kostet 700 Euro weniger als der 90 PS-Dreizylinder. Der Dreizylinder mit 115 PS ist gerade einmal 400 Euro teurer als der mit 90 PS. Die 115-PS-Maschine kostet gar 100 Euro mehr als der Vierzylinder mit 150 PS.

Den an sich ausgezeichneten 90-PS-Dreizylinder unter diesen Umständen zu empfehlen, fällt schwer. Geht es primär um einen günstigen Preis, raten wir zum Vierzylinder mit 90 PS ohne Start-Stopp-System. Allen anderen sei zu einer Probefahrt mit dem 100-PS-Vierzylinder geraten, der erheblich günstiger ist, oder gleich zum 115-PS-Dreizylinder. Mit einer solch seltsamen Preispolitik in die Ecke gestellt zu werden hat der schwächere Dreizylinder nicht verdient. Denn mit einer anderen Kalkulation würden sich die Frage, ob es denn mehr Leistung im Corsa braucht, vermutlich weit weniger Menschen stellen.

Opel übernahm für diesen Test die Überführungskosten, der Autor kam für den Sprit auf.