Android Automotive OS: Lässt Google Autoherstellern noch eine Chance?

Google drängt mit Android Automotive OS auf die Mittelkonsole neuer Autos. Wie gut ist das System in der Praxis?

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Clemens Gleich
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Eigentlich eignet sich Android nicht besonders gut als Betriebssystem für die Telematikeinheit der Mittelkonsole, das Infotainment-System. Es bootet eine Ewigkeit, es kämpft mit Sicherheitsproblemen und der Hardware-Wildwuchs hat Google stets auf Zack gehalten. Doch die ersten aktuellen und künftig wahrscheinlich alle Autos setzen wie im Serverbereich auf Virtualisierung: Einzelne Komponenten laufen in ihrer jeweils eigenen virtuellen Maschine (VM), mit ihren jeweils eigenen Anforderungen für Sicherheit und Zuverlässigkeit. Ein sogenannter "Hypervisor" verwaltet die VMs, alle teilen sich eine gemeinsame, leistungsfähige Hardware. Um von dieser unabhängiger zu werden, setzt Google auf VirtIO als Standard. Und so wagt Alphabet den Einstieg in die Telematiksysteme, zuerst im Polestar 2, später bei PSA (Opel!) und GM.

Es hat aufgrund des hohen Interesses an diesem Fahrzeug etwas gedauert, aber jetzt konnten wir endlich den Polestar 2 mit Googles Infotainment-OS ausprobieren. Obwohl sich die Bedienung relevant von Smartphones unterscheidet, gibt es kaum Fragen. Android Automotive OS (AAOS) erklärt sich von selbst. Ganz unten gibt es einen Home-Softbutton, die Home-Anzeige sortiert die Anzeige auf Kacheln, alles recht klar. Die Latenz ist gering, die Animationen flüssig, und was dabei beachtlich ist: Polestar setzt keine besonders kräftige Hardware ein. 4 GByte RAM, 128 GByte Flash-ROM, Quadcore-SoC mit 2,4 GHz Maximaltakt und GPU, separater DSP, Radio, Kühlgebläse, viel mehr enthält das Kästchen unter/hinter dem TFT nicht. Die Leistung liegt auf dem Niveau eines günstigen Smartphones.

Umso bemerkenswerter, wie gut das flutscht. Der Polestar 2 gehört zu den angenehmsten Fahrerlebnissen, die es derzeit gibt. Nichts bimmelt, nichts nervt, und wenn der Fahrer sagt "Spiel mir ein bisschen Classic Rock von Spotify!", dann spielt der Assistent Classic Rock von Spotify. Einziger Wermutstropfen der überschaubaren Hardware-Leistung aus Nutzersicht: Es gibt keine Offline-Sprachverarbeitung. Da jedoch schon geringe Bandbreiten ausreichen, ist die Frage, wie sehr das Kunden angesichts fortschreitenden Netzausbaus stört. So oder so ein sehr starker Konkurrent, selbst für viele Hardware-seitig deutlich leistungsfähigere Mitbewerber.

Android Automotive OS im Polestar 2 (21 Bilder)

So kam das Auto an: große Radiosenderansicht, große Touch-taugliche Buttons.
(Bild: Clemens Gleich)

Google gibt schrittweise den Play Store für AAOS-Neuentwicklungen frei, teilweise überschneidend mit dem bekannten Android Auto unter dem Sammelnamen "Android for Cars" und mit Design-Richtlinien für ablenkungsarme Apps. Aktuell gibt es hauptsächlich Apps der Kategorie "Media": Software, die Audiodaten abspielt. Viele Radiosender haben ihre Streaming-Apps fertig, die Polestar-Fahrer also installieren können. Aktuell noch nicht freischaltbar, aber in der Entwicklungsphase: Navigations-Apps, Parkplatzsuche oder Ladesäulenfinder. Die App-Auswahl wird also zügig wachsen. Man stelle sich nur vor: "Calimoto" und "A Better Route Planner" integriert auf der Mittelkonsole! Das wird hart werden für Volkswagen, die ja eine deutsche Automotive-Alternative zum Play Store anbieten wollen.

Kaum ein Autohersteller wird sich fragen müssen, ob er das besser kann (die bittere Antwort dürften die meisten kennen). Es bleibt nur die Frage, ob Googles Angebot für den Fahrzeughersteller preislich passt. Vielleicht könnte Volkswagen mit Here Maps die günstigere Alternative anbieten, die somit etwas schlechter sein darf. Für mich lesen sich diese Zeilen ebenso bitter wie für Sie oder jeden anderen Autodeutschen. Fest steht: Es gibt aktuell kein mit Android vergleichbares Angebot, vor allem beim Thema App-Ökosystem. Und es ist unwahrscheinlich, dass Volkswagen eine solche Alternative zuwege bringt, wie es sich die Wolfsburg-Oberen wünschen.

Android ist kein typisches Mittelkonsolen-Betriebssystem. Es braucht berüchtigt lange, um durchzubooten. Es ist notorisch unsicher. Und manches Latenzverhalten gibt es anderswo auch besser (man vergleiche einmal die Audio-Latenzen von Android mit iOS). Dem stehen die vielen Vorteile gegenüber, die das System zum führenden mobilen OS beförderten. Zum Glück neutralisiert schlaue Virtualisierung Androids Nachteile zu großen Teilen.

Wir sprachen mit Open Synergy, einem Software-Systemzulieferer der Autoindustrie, den Endkunden kaum kennen, obwohl zum Beispiel rund die Hälfte aller Autohersteller deren Bluetooth-Stack verwenden. Für AAOS und die dazugehörigen Entwicklungen in der Autotechnik interessiert vor allem Open Synergys Virtualisierungstechnik rund um das COQOS Hypervisor SDK (Software Development Kit).

Um etwa Android betriebssicher zu machen, schützt der “IC Guard” sicherheitsrelevante Systeme vor als unsicher markierten VMs. Wenn die Mittelkonsole also Fahrzeugdaten anzeigen will, fordert sie diese im Client-Server-Betrieb an, damit eine sichere VM sie ihnen liefert. Der IC Guard selber läuft dabei selbst in einer VM. AAOS muss somit keinen direkten Zugriff aufs Fahrzeug-Gateway erhalten, kann jedoch trotzdem Fahrzeugdaten von den systemkritischen Bus-Systemen anzeigen oder Daten an andere Steuergeräte schicken (zum Beispiel eine Kartenanzeige auf eine Tachoeinheit). Auf diese Art kann der Systemhersteller Android gut im Griff halten, muss also weder Google vertrauen noch selber einen Android-Port ohne Google-Dienste basteln und warten.

Open Synergy schlägt zum Beispiel vor, Tachoeinheiten auf Linux laufen zu lassen. Da Linux die für einen Tacho nötigen Sicherheitsanforderungen nicht selber erfüllt, hievt die Kontrolle des IC Guard das Gesamtsystem auf das nötige Sicherheitsniveau. Der Watchdog kontrolliert dabei anhand von Informationen aus dem Fahrzeug-Bus, ob die vorgeschriebenen Leuchten korrekt und zeitnah leuchten. Sollte das System nicht reagieren, schaltet er dann etwa die Hintergrundbeleuchtung aus und bootet die VM neu.

Multinationales Auto: kleine europäische Marke, skandinavisches Design, großer chinesischer Hersteller, amerikanische Infotainment-Technik. Der Polestar 2 setzt aus diesem globalen Geflecht heraus einen Benchmark für angenehme Kabinen, den die meisten größeren Hersteller nicht erreichen.

(Bild: Clemens Gleich)

Überhaupt können so alle möglichen Betriebssysteme aller möglichen Sicherheitsanforderungen ohne Interferenzen parallel auf einer kräftigen Hardware-Einheit laufen. Auf dem chinesischen Markt etwa könnte das AliOS sein, ein lokaler Android-Fork mit Schwerpunkt auf Cloud-Apps. Open Synergy bezeichnet die eigene Technik als "vollkommen OS-agnostisch". Die Strukturen aus Hypervisor, VMs und Watchdogs sollen mit so vielen Betriebssystemen wie möglich funktionieren – alle friedlich nebeneinander, ein jedes nach seinen Bedürfnissen, ein jedes nach seinen Fähigkeiten. Hier gibt es also auch einen Platz für Automotive Grade Linux, den nächsten Kandidaten dieser losen Serie über Mittelkonsolen-Betriebssysteme.

In einer nahen Zukunft konkurrieren die Systeme der Autohersteller nicht mehr nur indirekt, sondern direkt mit den ganz Großen der Unterhaltungselektronik-Branche. Consumer-zentrierte SoC-Designs können (siehe Volvo) mit kleinen Anpassungen die Umgebungsvorgaben von Automotive erreichen oder Consumer-Hersteller bieten Auto-Varianten an (siehe Nvidia Drive). Darauf läuft dann Software aus dem Silicon Valley. Die Kunden versorgen sich aus den USA mit Apps aus dem Google-Ökosystem.

Wenn die europäische Autoindustrie dem etwas entgegensetzen will, das nicht über die eigenen Füße stolpert, müssen die Mitspieler hier branchenweit oder besser: branchenübergreifend kooperieren. Anders verliert Deutschland einen erheblichen Teil der Fahrzeug-Wertschöpfungskette. Technisch habe ich keine Bedenken. Wer sich ansieht, was allein die vergleichsweise kleine Firma Daimler mit MBUX anbietet, wird sofort verstehen.

Doch sozial/politisch gibt es derzeit noch wenige kooperative Ansätze. Selbst Volkswagen will, dass Andere ihnen ins VW.OS folgen, um es zu Relevanz zu bringen. Die Software-Plattform soll aber ihrer alleinigen Kontrolle unterliegen. Wieso sollte ein Daimler oder eine BMW AG da mitmachen? Vielleicht erfolgt hier einmal ein Umdenken, bevor auch dieses Geschäft ins Ausland abgewandert ist.

(cgl)