Die X-Akten der Astronomie: Der unmögliche Dreifachstern KIC 2856960

In den Daten des Weltraumteleskops Kepler haben Astronomen ein System gefunden, das sich nur erklären lässt, wenn ein Keplersches Gesetz ausgesetzt wird.

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Die X-Akten der Astronomie: Der unmögliche Dreifachstern KIC 2856960

(Bild: ESO/L. Calçada, CC BY 2.0/heise online)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online stellen wir einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vor und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Die X-Akten der Astronomie

2018 veröffentlichten die britischen Astronomen Thomas R. Marsh, David J. Armstrong und Philip J. Carter eine Arbeit über einen vom Weltraumteleskop Kepler beobachteten Stern – KIC 2856960. Kepler hatte von 2009 bis 2012 ein Sternenfeld im Schwan ununterbrochen fixiert, um anhand kleiner Helligkeitsschwankungen der Sterne Exoplaneten aufzuspüren, die vor ihrem Stern durchziehen und ihn dabei geringfügig abschatten. Dabei gingen auch einige sich gegenseitig bedeckende Doppel- und Mehrfachsterne ins Netz.

In solchen Systemen lassen sich präzise Daten über die Temperatur und Größe in Abhängigkeit von der Masse eines Sterns ableiten, Daten, die bei Einzelsternen zum Teil nur schwer zu bestimmen sind. Deswegen ist die Analyse solcher Systeme so wichtig. Das System von KIC 2856960 war von anderen Autoren zuvor als aus drei Sternen bestehend identifiziert worden. Zu sehen ist jedoch nur ein einzelner heller Punkt am Himmel; die Natur des Systems lässt sich allein aus seiner Lichtkurve – und gegebenenfalls aus seiner Farbe und seinem Spektrum – erschließen.

Bei dem Versuch, aus der seltsamen Lichtkurve die Parameter des Systems zu ermitteln, scheiterten Marsh, Armstrong und Carter jedoch kläglich. Erst als sie eines der Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung über den Haufen warfen, konnten sie die Lichtkurve annähernd reproduzieren – allerdings mit völlig unsinnigen physischen Parametern, die einen Stern größer als die Sonne mit einer Masse von nur drei Erden ergeben. Was geht vor in diesem System?

Mehrfachsterne sind nichts Ungewöhnliches. Etwa zwei Drittel aller Sterne befinden sich in Doppel- oder Mehrfachsystemen. Genauso wie Planeten sind sie eine unverzichtbare Möglichkeit für eine zu Sternen kollabierende, rotierende Gas- und Staubwolke, Drehimpuls zu deponieren, denn Drehimpuls ist eine Erhaltungsgröße. Die Materie kann nicht einfach auf ihren Schwerpunkt zustürzen, wenn sie eine kleine zufällige Rotation vollführt, und solche Wolken sind durch Einflüsse von außen wie Supernova-Schockwellen und galaktische Magnetfelder stets ein wenig turbulent. Wie ein Pirouetten drehender Eiskunstläufer, der Arme und Beine zur Drehachse hin zieht, dreht sich ein kollabierendes Fragment der Wolke immer schneller und die resultierende Fliehkraft verhindert, dass ein Teil der Materie ins Zentrum stürzt. Diese formt dann große Planeten oder Sternenpartner.

Unser Nachbarsystem Alpha Centauri ist beispielsweise dreifach. Der "obere" (nördliche) Zwilling Castor sogar sechsfach, der mittlere Deichselstern des Großen Wagens, Mizar, mutmaßlich ebenso. Solche Systeme sind aber nur dann stabil, wenn sie hierarchisch organisiert sind, das heißt, wenn sich jeweils Sternpaare eng umkreisen und ihr Abstand zu anderen Komponenten oder Paaren sehr groß ist.

Alpha Centauri A und B umkreisen sich eng und Proxima Centauri umkreist sie in großem Abstand. Mizar A und B sind im Amateurteleskop leicht zu trennen und haben im "Reiterlein" Alkor (wahrscheinlich) einen fernen Begleiter. Alle drei sind spektroskopisch doppelt, das heißt die Partner stehen so eng zusammen, dass sie sich nur durch im Spektrum verdoppelte Spektrallinien verraten, die im Laufe der Umkreisung wegen des Dopplereffekts hin- und herwandern. Das Castor-System ist genauso organisiert.

KIC 2856960 verrät sich indessen durch seine Lichtkurve, also durch seine schwankende Helligkeit im Zeitverlauf. Er gehört zu den Bedeckungsveränderlichen: Wir schauen zufällig auf die Kante der Umlaufbahn der Sterne, sodass sie sich periodisch gegenseitig bedecken, und da während der Bedeckung weniger Sternenoberfläche zu sehen ist, erscheinen sie im Summenlicht dunkler. Der bekannteste Vertreter der Klasse ist Algol im Perseus, dessen Lichtwechsel sich auch aus der Stadt ohne optische Hilfsmittel sehr schön mit bloßem Auge verfolgen lässt.

Künstlerische Darstellung eines bedeckungsveränderlichen Doppelsterns, der aus zwei Roten Zwergen besteht, ähnlich demjenigen, der im System KIC 2856960 mutmaßlich einen dritten Stern umkreist.

(Bild: ESO/L. Calçada, CC BY 2.0)

Bei KIC 2856960 fand sich nun eine kurze Periode von 0,258 Tagen, mit einer Amplitude von 1 Prozent der Gesamthelligkeit – da wirbeln also zwei Sterne in nur 6 ¼ Stunden umeinander. Wahrscheinlich handelt es sich um zwei eng benachbarte Rote Zwerge.

Dass es sich um ein Dreifachsystem handelt, offenbart sich alle 204 Tage: in diesem Zeitintervall kommt es zu einer Reihe von bis zu 9 Abschattungen, die bis zu 8 Prozent Helligkeitsverlust des Gesamtsystems verursachen. Im selben Zeitintervall verschiebt sich der exakte Zeitpunkt (Epoche) der Bedeckungen der mutmaßlichen Roten Zwerge – nennen wir sie fortan "Binärsystem" oder "Binärpaar" – periodisch, was auf eine zyklisch variierende Lichtlaufzeit zum Beobachter schließen lässt.

Mal befindet sich das Binärpaar hinter dem umkreisten dritten Stern, mal davor, sodass das Licht mal länger, mal weniger lange zum Beobachter braucht. Da wir aufgrund der Bedeckungen wissen, dass wir das System fast genau von der Kante her betrachten, entspricht diese Laufzeitdifferenz annähernd dem tatsächlichen Durchmesser der Bahnellipse ohne perspektivische Verzerrung; würden wir hingegen senkrecht von oben auf die Bahnebene schauen, so wäre die Entfernung zum Binärsystem während des gesamten Umlaufs unverändert und es könnte kein Laufzeitunterschied gemessen werden.

Aus der Laufzeitdifferenz lässt sich also sehr genau auf den Bahndurchmesser entlang der Sichtlinie schließen – 99,38 Sonnenradien oder 0,46 Astronomische Einheiten (AE, der Abstand zwischen Erde und Sonne).

Wenn sich das Binärpaar vor dem 3. Stern befindet, verfinstert es diesen für einen Zeitraum von ungefähr 26,5 Stunden, was zu den tieferen Abschattungen führt – der dritte Stern ist offenbar der hellste im System und seine Bedeckung verursacht folglich den größten Lichtverlust. Da das Binärpaar während eines solchen Transits vor der Scheibe des dritten Sterns fast fünfmal einander umkreist und seine Komponenten somit mehrfach die Richtung ändern, befinden sie sich nicht etwa ständig vor der Sternenscheibe, sondern wandern abwechselnd vor die Scheibe und wieder an ihre Seite. Dies führt zu einem komplexen Verfinsterungsmuster:

Links die Lichtkurven von sieben Transits des Binärsystems vor dem dritten Stern, die von Kepler während seiner Primärmission aufgezeichnet wurden, übereinander aufgetragen. Hier sind sie ausgerichtet nach der Mitte der Bedeckung, wenn der Schwerpunkt des Binärsystems die Mitte der Scheibe des dritten Sterns erreicht (Zeitstempel 0). Zwischen den Kurven liegen jeweils die 204 Tage eines Umlaufs um den dritten Stern. Zu Beginn sieht man zunächst die kleinen gegenseitigen einprozentigen Abschattungen der Binärpartner. Die erste tiefe Verfinsterung verschiebt sich von Umlauf zu Umlauf nach rechts (schräge gestrichelte Linie), da die Sterne im Binärsystem zu Beginn jedes Transits jeweils ein wenig weiter gegeneinander verschoben sind, die "Phase" ist eine andere. Sechs der Kurven wurden mit 30 Minuten Kadenz von Kepler aufgenommen, mit Ausnahme der dichteren zweiten von oben, die mit einer Minute Auflösung aufgezeichnet wurde. Sie ähnelt im Verlauf der 2. und 3. Kurve von unten: eine einzelne Delle (A), Pause, eine doppelte Delle (B-D) mit einer Spitze (C) dazwischen, Pause, zwei tiefe Dellen (E-F) und von da an wiederholt sich das Muster in umgekehrter Reihenfolge.
Rechts sind die Verfinsterungen nach diesem Muster untereinander ausgerichtet. Die blauen gestrichelten Linien entsprechen Zeitpunkten der ganzzahligen Phasen des Binärsystems (rote Beschriftung 0,0 – 1,0 – 2,0 …), wenn die Komponenten aus Sicht der Erde hintereinander stehen. Die dünnen rot gepunkteten Linien entsprechen halbzahligen Phasen (0,5 – 1,5 – 2,5 …), wenn sie die Plätze getauscht haben und in umgekehrter Anordnung hintereinander stehen. Das Grundmuster findet sich in allen Lichtkurven wieder, am stärksten in der hochaufgelösten Lichtkurve. Die erste Delle bei -0,4 Tagen findet etwa bei Phase 0,25 statt (Sterne stehen maximal weit nebeneinander in sogenannter „Quadratur“), die Doppeldelle einen Binärumlauf später bei 1,1 und 1,4 mit der Spitze dazwischen bei 1,25. Die nächste tiefe Delle folgt bei Phase 2,0, die folgende bei 2,5 und dann wiederholt sich das Schema in umgekehrter Folge bei 3,0, 3,6-3,8 und zuletzt 4,75.

(Bild: T. Marsh, D. Armstrong, P.Carter, arXiv)

Wie im Bildtext erklärt wiederholt sich ein bestimmtes Muster der Abschattungen. Kepler konnte das Muster siebenmal aufzeichnen; das letzte endete vorzeitig, als die Beobachtungen wegen eines Defekts an der Lagesteuerung des Teleskops zunächst eingestellt werden mussten. Marsh, Armstrong und Carter fanden, dass ein im nächsten Kasten beschriebenes Modell das Muster erklären kann, wobei der zweite Stern im Binärsystem für die tiefen Dellen seltsamerweise keinerlei Rolle zu spielen scheint, so als ob nur einer der Binärkomponenten den anderen Stern verfinstert.

Das Modell der Autoren für den Lichtwechsel im KIC-2856960-System. Es zeigt die Entstehung der ersten fünf Abschattungen A-F. Die gelbe Scheibe zeigt den hellen Stern 3 im System, die orangefarbene den größeren Stern 1 des Binärpaares und die kleine graue Scheibe den Stern 2, der für den Lichtwechsel keine Rolle zu spielen scheint. Die Ellipse zeigt die fast von der Kante gesehene Umlaufbahn des Binärpaares umeinander. Die dem Beobachter nähere Seite ist durchgezogen, die fernere gepunktet, mit einem × im gemeinsamen Schwerpunkt. Dieser bewegt sich mitsamt der Bahnellipse gleichförmig von links nach rechts und die Sterne umkreisen ihn in Pfeilrichtung. Neben der Umlaufbahn zu Bild A sind die Phasen eingetragen, in den folgenden Bildern nur für Stern 1, wie in der Lichtkurve zuvor über die Umläufe hochgezählt. Die Abstände der Bilder entsprechen in etwa dem zeitlichen Abstand zwischen den Phasen.
Zunächst erreicht Stern 1 die Scheibe von Stern 3 nur in seiner Extremstellung bei Phase 0,25 (A) – dies verursacht die erste Delle in der Lichtkurve, die bei einer Teilbedeckung weniger tief ausfällt. Beim zweiten Umlauf wandert Stern 1 dann komplett vor Stern 3 (B) und verursacht eine maximale Verdunklung bei etwa Phase 1,1, um dann bei Phase 1,25 teilweise über die Scheibe von Stern 3 hinaus zu schießen, was zu einer zwischenzeitlichen Aufhellung führt (C), bevor er wieder rückläufig wird und bei Phase 1,4 wieder ein tiefe Abschattung verursacht (D). Beim dritten Umlauf befinden sich dann bei größter Abschattung alle Sterne ungefähr auf einer Linie (Phase 2,0), wie auch beim folgenden Minimum (F), dort nur in umgekehrter Anordnung des Binärpaares (Phase 2,5). Dazwischen verlässt Stern 1 vollkommen die Scheibe von Stern 3, was zu einer zwischenzeitlichen Aufhellung führt.
Danach wiederholt sich der Zyklus umgekehrt von E nach A – man muss nur die Einzelbilder und den Ablauf spiegelbildlich betrachten.

(Bild: Alderamin, CC BY-SA 3.0)