Schule digital: Die großen Pläne des Bundes – Fiasko oder Revolution?

Seite 4: Die Initiative Digitale Bildung

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Relativ unklar ist derzeit, was neben Plattform / Bildungsraum zusätzlich noch im Rahmen der von der Bundesregierung ausgerufen Initiative Digitale Bildung passieren soll. Am 12. März 2021 hatte das BMBF in einem verhältnismäßig überschaubaren Kreis zu einem "ersten Netzwerktreffen der Initiative Digitale Bildung" eingeladen. Akteure aus Hochschulen, Unternehmen und Stiftungen stellten dem BMBF-Staatssekretär Christian Luft ihre Arbeit und Ideen vor. In der Folge soll dieses Netzwerk um weitere Mitwirkende erweitert werden, monatlich den Austausch anhand eines Schwerpunktthemas vorantreiben und so vorhandene Entwicklungen sichtbar machen und vernetzen.

Angesichts der großen Ambitionen, die mit den Planungen in Sachen digitale Bildung verbunden sind, braucht es dringend eine breitere Debatte. Hier kommen einige Diskussionsanstöße in Form von fünf freundlichen Ermunterungen und einer großen Befürchtung.

Die Vision der Bildungsplattform ist beeindruckend. Alleine zahlenmäßig ist die Digitalisierung im Bereich Schule mit 10,9 Millionen Schüler:innen und 0,9 Millionen Lehrkräften eine gigantische Herausforderung, ganz zu schweigen von weiteren Bildungsbereichen. Hinzu kommt, dass man in Sachen Digitalisierung nicht einfach "aufholen" kann, wie gerne gesagt wird. Denn der digitale Wandel vollzieht sich ja kontinuierlich weiter, mit kaum vorhersagbaren Entwicklungen. Es ist nicht so, dass man jetzt ein paar Jahre Aufwand in die Digitalisierung stecken kann und dann wieder Ruhe hätte. Die Kompetenzzentren und die Bildungsplattform bieten eine starke Vision und hoffentlich eine solide Basis für große anstehende Aufgaben.

Bei aller Vision darf nicht übersehen werden: Menschen, die täglich mit Informationen, Wissen, Kommunikation und Zusammenarbeit zu tun haben, brauchen gute Geräte, gute Software, eine sehr gute Internetverbindung und entsprechendes WLAN, dazu Präsentationsmöglichkeiten – und dazu Support und Know-How. Lehrende und Lernende sind solche Menschen. Und trotz der Fortschritte sind die Schulen an den meisten Orten noch weit von einem guten Standard entfernt, wie man ihn inzwischen in jeder Sparkasse finden kann. Neben der Grundausstattung brauchen alle Lehrkräfte mehr Klarheit und Vereinfachungen in Sachen Datenschutz sowie die Zeit für Fortbildungen und Organisationsentwicklung.

In einigen Bundesländern wird es als Erfolg gefeiert, dass alle Lehrkräfte nun eine eigene dienstliche E-Mail-Adresse bekommen sollen. Das ist 2021 zu wenig.

Der digitale Wandel wird bisweilen nur als Austausch von Werkzeugen (Tastatur statt Stift), Materialien (PDF statt Schulbuch) und Lernorten (Homeschooling statt Klassenraum) diskutiert. Die Ankündigungen von Bund und Ländern sprechen gerne von besserer Unterrichtsqualität, hochwertigen Materialien oder effizienter Arbeit. Mit diesen Zielen lässt sich lediglich die Bildung des 20. Jahrhunderts optimieren.

Die digitale Transformation zeigt, dass "mehr vom Alten" nicht reicht. Die Bildungsziele und Lerninhalte verändern sich. Neben Fachinhalten braucht es Kompetenzen für selbständiges Arbeiten, für Zusammenarbeit, für den Umgang mit widrigen Situationen und vieles mehr. Und vor allem: Es braucht Bereitschaft und Fähigkeiten, das eigenen Lernen zu reflektieren, zu steuern und weiterzuentwickeln – erst Recht, wenn Schule, Studium oder Ausbildung abgeschlossen sind. Hinzu kommen neue Lernformen.

Es ist kein echter Fortschritt, wenn der Vokabeltrainer jetzt digital funktioniert und das Schulbuch durch Instruktionsvideos ersetzt wird. Das große, noch kaum gehobene Potenzial digitaler Medien liegt in personalisierten Lernprozessen, der Zusammenarbeit über den Klassenraum hinaus, der Arbeit in Projekten, die Erarbeitung von kreativen Lernprodukten u.v.a.

Bei Vorstellung der Initiative Digitale Bildung und im Entwurf der neuen KMK-Strategie finden sich bestenfalls erste Ansätze davon. Das muss jetzt ausgebaut, mit Leben gefüllt und in die Breite getragen werden. Der Diskurs um "Digitale Bildung" mag weiterhin aus vielen Schlagworten bestehen. Aber immerhin: Die Schlagworte sind schon viel besser als noch vor kurzer Zeit.

Insbesondere bei den Kompetenzzentren besteht die Gefahr, dass hier einfach nur mehr vom Alten passieren wird. Kein Zweifel: Es braucht die bestehenden Strukturen. Wir haben nur die Lehrerausbildung, die wir haben. Und auch in der Fortbildung sind die bestehenden Institutionen weiterhin unverzichtbar. Aber diese Häuser waren bisher nicht die Treiber einer digitalen Transformation.

Es wird nicht reichen, ihnen jetzt einfach noch mehr Aufgaben zu geben. Im schlimmsten Falle werden die für Medien zuständigen Abteilungen und Institutionen nur umbenannt und heißen ab 2022 "Kompetenzzentren", bekommen mehr Aufgabe und – im allerschlimmsten Fall – nicht einmal nennenswert mehr Personal und Budget.

Ähnliches gilt für die Wissenschaft. Der Glaube des BMBF an die akademischen Institutionen des Landes ist erfreulich. Aber auch dort ist die Expertise in Sachen digitales Lernen und Lehren bisher eher punktuell als flächendeckend aufgefallen. Fragt man die einschlägigen Verantwortlichen nach Beispielen, wo wissenschaftlich geführte Programme in jüngster Zeit für nachhaltige Verbesserungen von Unterricht geführt haben, wird immer nur ein einziges Beispiel genannt: Das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Besonders bemerkenswert: Das DZLM wurde von außen, nämlich durch die Telekom-Stiftung initiiert und finanziert. Erst nach 10 Jahren wurde das Vorhaben Anfang 2021 in eine öffentliche Finanzierung überführt.

Als weiterer Ausgangspunkt wird häufig das Bund-Länder-Programm "Qualitätsoffensive Lehrerbildung" (QLB) angeführt, in dem es einen Schwerpunkt "Digitalisierung in der Lehrerbildung" gibt. Auch hier findet man bei genauem Hinschauen eher einzelne Anfänge als fortgeschrittene Konzepte und Formate, um Lernen und Schule wirklich anders zu denken.

Echte Innovationen entsprangen in den letzten Jahren aus anderen Quellen. Einige Beispiele: Verschiedene Bildungsstiftungen haben sich als Forum Bildung Digitalisierung zusammengeschlossen um einen "digitalen Kulturwandel im Bildungsbereich" zu gestalten. Deutschland mag kein Land der EdTech-Start-ups und Social Entrepreneurs sein, doch es sind die Angebote von Sofatutor oder Serlo und nicht etwa von Schulverlagen oder Hochschulen, die nachmittags millionenfach bei den Hausaufgaben helfen. Und wer wissen will, wo die neuen Leitbegriffe der Debatte im deutschsprachigen Raum zuerst diskutiert wurden, von Flipped Classroom über Digitalität und Persönliche Lernnetzwerke bis zur neuen Prüfungskultur, wird nicht in den Fachzeitschriften, sondern auf Twitter und in Blogs fündig.

Zur Bekanntgabe der Initiative Digitale Bildung betonte Bundesbildungsministerin Karliczek, man wolle "zeigen, was es schon alles gibt, aber auch, wo es noch hingehen soll." Das klang locker-flockig, aber dahinter steht ein wesentlicher Punkt: Es gibt schon vieles, was nicht neu erfunden werden muss. Das ist gut. Allerdings wurden die wirklich schwierigen Punkte noch vermieden: Was ist, wenn in 2023 die beliebteste App zur Weiterbildung nicht von den Volkshochschulen kommt, sondern von ByteDance, der Mutter von TikTok? Welchen Stellenwert werden Open Source-Angebote und frei lizenzierte Materialien (Open Educational Resources, OER) haben? Wer entscheidet über die Regeln, die den Zugang zum digitalen Bildungsraum festlegen, wer wird der neue Gatekeeper?

Das Thema Offenheit ist eine markante Leerstelle in den vorgestellten Planungen. Da sind die bildungspolitischen Debatten eigentlich schon weiter, und demnächst soll eine offizielle Strategie der Bundesregierung zu Open Educational Resources erscheinen. Bei dem von Wikimedia Deutschland koordinierten Bündnis Freie Bildung kann man sowohl die Planungen als auch konkrete Forderungen dazu nachlesen. Kurz gesagt: Alles, was mit öffentlichen Mittel finanziert wird, sollte als OER und Open Source bereitgestellt werden, z.B. von der Bundesregierung geförderte Lern-Apps und Lern-Plattformen. Diese Forderung wird noch wichtiger, wenn Lernangebote in Zukunft vernetzt angeboten und genutzt werden sollen.

Die Frage nach Offenheit stellt sich auch hinsichtlich der Partizipation am weiteren Prozess. Bisher wurden die Planungen, wie für BMBF und KMK üblich, hinter verschlossenen Türen vorangetrieben. Ein so anspruchsvolles Vorhaben kann aber nur gelingen, wenn frühzeitig die Vielfalt von Ideen, vorhandenen Ansätzen und Ansprüchen mit an den Tisch geholt wird.

Auch wenn der Bildungsbereich keine Vorreiter-Position einnimmt, so gibt es doch schon sehr viele Angebote und Erfahrungen, die groß angelegte Planungen kennen und einbeziehen sollten.

Wenn die Bildungsplattform einen einheitlichen Zugang im Sinne von Identitätsmanagement anbieten will, dann sollte man wissen, dass die Länder mit dem Projekt VIDIS genau das schon auf den Weg gebracht haben und 2022 in den Einsatz bringen wollen. Wenn man Sammlungen und Schnittstellen für Lehr-Lern-Materialien anbieten will, sollte man nicht ein drittes Vorhaben isoliert neben das vom Bund finanzierte WirLernenOnline und das Länderprojekt Mundo stellen. Die arbeiten nämlich genau daran.

Es gibt bereits Online-Fortbildungen für Lehrer:innen, beispielsweise vom Hamburger Start-up Fobizz, aber ansatzweise auch von den Instituten der Länder. Zumindest bei Angeboten, bei denen kein Aufwand für die Betreuung-pro-Person anfällt, gibt es keinen Grund, warum sie durch Ländergrenzen beschränkt werden sollten – was faktisch derzeit noch passiert.

Auch der in Verruf geratene "Flickenteppich" von parallel betriebenen Entwicklungen kann von Vorteil sein. Denn im dynamischen Feld des digitalen Wandels müssen viele verschiedene Ansätze erprobt werden, um aus den gemachten Erfahrungen zu lernen. (Und alle, die nach "Vereinheitlichung" rufen, meinen ja eigentlich: "Ich will vereinheitlichen, und zwar auf diejenigen Lösung, die ich für richtig halte.") Voraussetzung ist, dass nicht nur die Angebote miteinander geteilt werden, sondern die damit verbundenen Erfahrungen gemeinsam ausgewertet werden, sodass alle daraus lernen können. Hier gibt es großen Nachholbedarf.

Und schließlich: Deutschland ist nicht alleine in der Welt, wie es die Rede vom "Nationalen Bildungsraum" und der "Nationalen Bildungsplattform" suggeriert. Zwar findet man beim genauen Hinschauen auch Bekenntnisse zur Einbindung der europäischen Ebene. In der Praxis ist das bisher aber nirgends zu entdecken. Das BMBF ist notorisch zurückhaltend, wenn es darum geht, von anderen Ländern zu lernen oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten. Und die Verbindung zum "Aktionsplan für digitale Bildung (2021-2027)", den die Europäische Kommission auf den Weg gebracht hat, findet man in den bisherigen Überlegungen so gut wie nirgends. Dabei liest sich seine Beschreibung so, als ginge es um einen Zwilling der Ideen von BMBF und KMK.