Schule digital: Die großen Pläne des Bundes – Fiasko oder Revolution?

Seite 5: Die große Sorge: Gigantomanie

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Besonders bemerkenswert an der geplanten Bidungsplattform ist das, was sie nicht sein soll: Ein zentralistisches Monster. Denn das Bedürfnis der Politik (und vieler Wähler:innen), dass bitte jemand Ordnung in die unübersichtlichen digitalen Welten bringe, ist hoch. Das verführt gerne zu hohen Ansprüchen und der Verheißung, dass eine neue Plattform alles strukturieren oder gleich ganz neu erfinden solle. Das hat im Bereich Digitalisierung aber noch nie funktioniert. Dafür ist die Entwicklung zu schnell, zu dynamisch, zu vielfältig.

Die geplante Bildungsplattform soll nicht selbst zum Anbieter von Inhalten, Tools, Diensten werden. Sie soll Standards setzen, Zugänge schaffen, Vernetzung ermöglichen, für die vorhandenen und zukünftig kommenden Angebote. Selbst in dieser Konstruktion wird die Gatekeeper-Funktion von enormer Bedeutung werden.

Wie wird über die Regeln entschieden? Wer entscheidet, was auf die Plattform kommt – und was nicht? Hinzu kommt die Frage nach der Akzeptanz aufseiten der Anbieter. Denn niemand wird Anbieter auf die Plattform zwingen können, wenn sie gar nicht wollen. Und auch die Bildungsinstitutionen könnten weiterhin Angebotsformen jenseits der Plattform attraktiver finden. Vergleiche mit De-Mail drängen sich auf, die mit großen Versprechungen und hohem Aufwand vor 10 Jahren eingeführt und kürzlich von Telekom-Chef Höttges zum "toten Gaul" erklärt wurde.

Selbst der vorgesehene dezentrale Ansatz steckt noch ein derartig weites Feld ab, wie sich vielleicht auch einige der Planer:innen noch nicht selbst klargemacht haben. Eine Plattform, die alle Bildungsbereiche und selbstgesteuertes Lernen abdecken will, richtet sich mehr oder weniger an die gesamte Bürgerschaft, organisiert also mittelfristig die Datensätze von zig Millionen Menschen. Von der Größenordnung her bieten sich vorsichtige Vergleiche mit der Elektronischen Gesundheitsakte an. Diese wurde zu 2021 verpflichtend für die Krankenkassen – nach einer Planungs- und Entwicklungsdauer von fast 20 Jahren! Im Vergleich zu Gesundheitsdaten sind die im Bildungsbereich anfallenden Daten um ein vielfaches umfangreicher. Zum Arzt geht die durchschnittliche 15-Jährige ein paar Mal im Jahr, wo dann ein einzelner Befund festgehalten wird. Zur Schule geht dieselbe Person quasi täglich und wird dabei in Zukunft ständig digitale Daten erzeugen und nutzen.

Vor diesem Hintergrund ist kaum zu ermessen, wie groß die Verantwortung bei denen ist, die diese Daten organisieren. Hört man sich in den Kreisen um, die mit den bisherigen Planungen vertraut sind, dann erfährt man: Fragen nach Kontrolle und Überwachung sind bisher kaum ein Thema. Datenschutz wird als diffuse Angst vor großen, globalen Unternehmen verstanden. Was aber ein Staat, ob offiziell oder über beispielsweise Geheimdienste, mit den Datensätze von tendenziell allen Lernaktivitäten von tendenziell allen Menschen eines Landes anfangen könnte, dazu gibt es kaum Diskussionen.

Auch hinsichtlich der technischen Umsetzbarkeit kann man den Bildungs- mit dem Gesundheitsbereich vergleichen – und kommt zu ernüchternden Ergebnissen. Schaut man sich alleine den Bereich Schule an, so findet man nicht nur höchst unterschiedliche Regelungen und Strukturen, sondern auch zahllose Widersprüche und Uneinheitlichkeiten. Wenn man nun diese Realität in einer Plattform abbilden will, wird man schnell kaum überwindbare Probleme bekommen. Denn digitale Systeme können das nicht gut. Man kann technisch nicht sauber abbilden, was in der Welt nicht sauber strukturiert ist.

Wenn es ausgesprochen gut geht, kann die Bildungsplattform ihre Versprechungen einlösen. Wenn es schlecht läuft, wird die Nationale Bildungsplattform zum digitalen BER-Flughafen der Bildungspolitik. Man muss es wohl dennoch probieren, auch wenn es nach einem unmöglichen Unterfangen aussieht. Denn die Hoffnungen und Zielsetzungen sind ja richtig und wichtig. Und die möglichen Schwierigkeiten sind auch ein Symptom davon, dass der Bildungsbereich noch am Anfang der digitalen Transformation steht und die großen Fragen und Potenziale noch vor sich hat.

Es sieht so aus, als hätte Corona das Thema digitale Bildung in der deutschen Bildungspolitik wach gerüttelt. Groß angelegte Initiativen wurden und werden auf den Weg gebracht. Doch bei allem Optimismus ist Vorsicht geboten. Die Institution Schule und die Akteure um sie herum haben immer wieder gezeigt, wie stark ihre Beharrungskräfte sein können. Wenn derzeit an manchen Orten gesagt wird: "Die Schule kann nach Corona nicht wieder in den alten Zustand zurückfallen", muss man sagen: "Doch. Das ist gut möglich."

Hinzu kommt: Guter Wille alleine wird nicht reichen – es braucht Geld. Die angedachte Finanzierung ist angesichts der großen anstehenden Umbrüche nur ein Anfang und noch längst nicht in trockenen Tüchern – von langfristigen Investitionen nach der Krise ganz zu schweigen. Und schließlich: Alle Aktivitäten stehen unter den Vorzeichen einer Bundestagswahl, verbunden mit besonderem Engagement für den Wahlkampf und einem anschließenden Regierungswechsel, der auch für das Bildungsministerium Auswirkungen haben dürfte.

"Das Thema wird uns noch Jahre und Jahrzehnte beschäftigen", prognostizierte Bildungsministerin Karliczek richtigerweise bei der Vorstellung der Initiative Digitale Bildung. Es braucht einen Marathon – mit hohem Tempo, großer Kooperationsbereitschaft und viel Geld. Die Perspektiven für die Umsetzung der Vorhaben stehen in einem kaum berechenbaren Spannungsfeld zwischen kurzfristigen politischen Entwicklungen und notwendiger Langfristigkeit der Planungen. Das kann man bedauern. Aber das Engagement der politischen Akteure in Wahlkampfzeiten kann auch genutzt werden, um öffentliche Diskussionen zu führen, Forderungen zu stellen und Ermunterungen auszusprechen.

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(kbe)