Schule digital: Schule nach der Digitalisierung – eine Zeitreise ins Jahr 2040

Seite 5: Schulkritik 2040

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Das Schulsystem in 2040 bietet ein effizientes Angebot für alle, aber es ist gespalten und umstritten. Kritiker nennen die LIDA-Schulen "Lernfabriken ohne Herz und Seele". Die Schulen würden mit ihren bunten Sitzsäcken und begrünten Sitzecken zwar an der Oberfläche einladend und individuell wirken. Aber die versprochene Individualisierung sei ein Fake. Zwar können alle im eigenen Tempo und mit maßgeschneiderter Betreuung lernen. Aber das entscheidende – nämlich die Inhalte des Lernens – seien keinesweg beeinflussbar. Alle müssten dem Pfad folgen, den die Maschine vorgibt. Dieser Weg sehe zwar unterschiedlich aus, aber er führe alle zu den gleichen, vorgegebenen Zielen.

In 2040 wird rückblickend eine unerwartete Nebenwirkung der automatisierten Systeme sichtbar: Schüler:innen verstehen ihr eigenes Lernen immer weniger. Die Kompetenz zum Meta-Lernen, also das Lernen über das Lernen, war zwar als zentrales Bildungsziel schon lange bekannt. Allerdings haben die digitalen Systeme genau das (vermeintlich) überflüssig gemacht. Sie beobachten, analysieren und verstehen das Lernen. Die lernende Person braucht und kann das nicht nachvollziehen – für sie reicht es aus, dem nächsten Schritt des digitalen Pfads zu folgen.

Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen sind in 2040 weiterhin wichtig, auch wenn sie sich verändert haben, genau wie fachliches und interdisziplinäres Wissen. Übergreifende Kompetenzen wie Kreativität, Empathie, kritisches Denken oder Zusammenarbeit gelten jedoch als genauso bedeutsam – und diese könne man den Kritikern zufolge in den automatisierten Lernfabriken nicht fördern – im Gegenteil. Der Algorithmus kann besonders gut eindeutiges Faktenwissen vermitteln und abprüfen – und genau diese Art von Wissen verliert für Menschen immer mehr an Bedeutung, weil entsprechende Aufgaben von Maschinen übernommen werden.

Es ist kaum vorstellbar, wie umfangreich und umfassend die Daten sind, die in den vernetzten Lehr-Lern-Systemen in 2040 anfallen und verarbeitet werden können. Dabei werden nicht nur alle Lernschritte und -ergebnisse aufgezeichnet, sondern auch umfassende Vermessungen der Lernenden.

Während zunächst die direkten Eingaben über Tastatur, Klicks und Touchscreen im Vordergrund standen, wurden zunehmend indirekte Interaktionen wichtig. Man begann damit, über Webcams die Blickrichtung zu analysieren. Wohin schauten die Lernenden, wie lange, was ignorierten sie, was fokussierten sie? Die Auswertung dieser Daten brachte einen großen Entwicklungsschub. Die Entwickler:innen und ihre Algorithmen erkannten, dass es für die Analyse viel wichtiger war zu erkennen, was im Inneren des Lernenden passierte, wenn gerade keine Eingabe stattfand.

Im nächsten Schritt lernten die Systeme, mit Hilfe von zusätzlichen Daten wie Blutdruck, Herzfrequenz, Hautwiderstand, Gesichtsausdruck oder Pupillengröße auf den psycho-emotionalen Zustand der Lernenden zu schließen. Was erzeugt Stress? Was sorgt für gut Lernatmosphäre und Motivation? Die gewonnenen Daten verband man untereinander sowie mit Metadaten, beispielsweise mit Tageszeiten, Wetter und natürlich mit den jeweiligen Lerninhalten. Auf diese Weise und mit Zugriff auf die Datensätze von Millionen von Schüler:innen konnten die lernenden Algorithmen hochgradig komplexe Analysen vollziehen und das Lernangebot immer weiter perfektionieren, so dass ein Lernen ohne Angst und Stress, mit Belohnungen und Entspannungsphasen möglich wurde – und zwar nicht nur für einen angenommenen Durchschnittsschüler, sondern für jeden Einzelnen individuell.

Gleichzeitig weckten die Datensätze und ihre Analysen Begehren von allen Seiten. Am Anfang standen die Eltern, die sehr empfänglich für das Versprechen waren, jederzeit über Lernstand und Aktivitäten ihrer Kinder auf dem Laufenden gehalten zu werden. Eine mächtige Nebenwirkung waren Empfehlungssysteme für außerschulische Aktivitäten der Kinder wie Sport, Musik und andere Hobbys. Sie wurden aus Big-Data-Analysen abgeleitet, bei denen die Algorithmen unter anderem die Daten früherer Schüler mit ihren späteren Erfolgen und den außerschulischen Tätigkeiten trianguliert hatten.

Auch Unternehmen interessieren sich für diese Datensätze, um Informationen für Bewerbungen und Recruiting, aber auch für das Marketing zu gewinnen. Nachdem Mitte der 20er Jahre drakonische Strafen für entsprechenden Missbrauch von Daten eingeführt wurden, konnte diese Problem im Bereich der Unternehmen zurückgedrängt werden.

Schwieriger gestaltet sich der Umgang mit Überwachungs- und Kontrollbestrebungen von staatlicher Seite. Auch 2040 dauert der Kampf zwischen Freiheitsrechten und Maßnahmen im (vermeintlichen oder tatsächlichen) Dienste der Sicherheit an. Die umfassenden Datensätze sind Objekt größter Begierde gerade für die 2040 dominanten Vertreter von Pre-Crime und Predictive Policing. Sie wollen die Daten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen nutzen, um die Wahrscheinlichkeiten für potenzielle Straftaten zu prognostizieren.

Dieser Widerspruch bleibt ungelöst. Die umfassenden Datensammlungen sind eine janusköpfige Angelegenheit. Die Daten, die das Lernen erleichtern und verbessern, sind dieselben Daten, die Missbrauch, Manipulation und Kontrolle ermöglichen. Ansätze wie die Löschung oder Anonymisierung von Daten haben sich auch deswegen nicht durchgesetzt, weil viele Menschen direkte Vorteile in ihren Datensammlungen erkennen – je umfangreicher, desto besser.

Immerhin: Mit der Anerkennung des "Rechts auf Export" hat der Europäische Gerichtshof 2032 einen Standard gesetzt, nach dem Unternehmen ihren Nutzer:innen einen kompletten Export der sie betreffenden Daten in einem standardisierten Format ermöglichen müssen.