Fahrbericht Royal Enfield Hunter 350: Gemächlich erfolgreich?

Die Hunter 350 wirkt wie der Gegenentwurf zu den Ansprüchen der Leistungshungrigen. Reichen 20 PS für Fahrfreude, oder ist das knapp? Ein Fahrbericht

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Royal Enfield Hunter 350
Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Ulf Böhringer
Inhaltsverzeichnis

Royal Enfield, eine der Lieblingsmarken der hiesigen Leistungsverweigerer und bislang nur im Heimatland Indien ein großer Player, will seine Stückzahlen weiter kräftig steigern. Wachstumstreiber soll die neue Hunter 350 sein. Das 20-PS-Motorrädchen wird im kommenden Winter nach Europa kommen. Wie fährt sie sich? Eine erste Ausfahrt auf den Straßen von Bangkok.

Zwei 350er finden sich bereits im Modellprogramm des 1901 als "Enfield" gegründeten Herstellers Royal Enfield. Immerhin Achtungserfolge konnten die frühgeborenen Cousins der neuen Hunter 350 bereits einfahren: Sowohl die auf dem deutschen Markt angebotene Meteor 350 als auch die Classic 350 haben es geschafft, im ersten Halbjahr 2022 hierzulande in den Kreis der 50 meistverkauften Motorräder vorzustoßen. Das ist insofern bemerkenswert, als der deutsche Markt im europäischen Vergleich extrem von großem Hubraum und hoher Leistung gekennzeichnet ist. Angesichts der gut gemachten neuen Hunter 350 könnte der Erfolg von Royal Enfield in Europa weiter wachsen: Das zierliche Motorrad bietet – auf dem bescheidenen Leistungsniveau von 20,2 PS – alles, was ein vollwertiges Motorrad aufweisen muss. Vielleicht sogar ein klitzekleines bisschen mehr ...

Royal Enfield Hunter 350 (5 Bilder)

Aktuelle Bikes, die einfach nur Motorrad sind – das gibt es von Royal Enfield sogar in neu.

Besieht man sich die Hunter 350 erstmals aus der Nähe, fallen neben den konventionellen Proportionen sofort die pfiffig-simplen Details auf: Die Lenkerschalter (links fürs Licht, rechts fürs Anlassen und Abstellen des Motors), die bestens platzierten Beifahrer-Haltegriffe, das gut ablesbare analog-digitale Zentralinstrument oder auch der prima handhabbare Zentralständer sind in höchstem Maße nutzerfreundlich.

Aber auch der zweite Blick überzeugt: Die Verarbeitung erscheint auch beim Öffnen der ideal gepolsterten, nur leicht gestuften und im hinteren Bereich bestickten Sitzbank einwandfrei. Dasselbe Ergebnis zeitigt der Blick unter den abschließbaren rechten Seitendeckel (dort befindet sich der Öffnungsmechanismus für die Sitzbank). Auch das verhältnismäßig geringe fahrfertige Gewicht von 181 Kilogramm deutet darauf hin, dass der Hersteller nicht unbedacht fette Stahlrohre verbaut hat, wo feiner gestaltete Bauteile ausreichen.

Konzernboss der Eicher Motors Group, Siddhartha Lal, war zuvor viele Jahre Enfield-CEO; ihm hat die Firma ihren fast schon märchenhaften Aufstieg zu verdanken. 2010 baute man gerade 50.000 Motorräder, acht Jahre später waren es fast 850.000. Wegen der Pandemie sanken die Zahlen auf rund 621.000 (2021), wovon 88,6 Prozent in Indien blieben und nur 17.189 nach Europa fanden – immerhin. Denn im Jahr zuvor waren es gerade 12.920 gewesen. Nun also die Hunter: Wir konnten bei Tag als auch im nächtlichen Bangkok erste Fahreindrücke sammeln. Die 790 mm Sitzhöhe stellten denn auch niemanden vor Probleme.

In Bangkok ist die Hunter 350 eine Macht: Der Zweiradverkehr wird in der thailändischen Metropole von 125er-Rollern dominiert, auf denen nicht selten bis zu drei Jugendliche oder auch ein Elternpaar mit zwei Kindern Platz finden. Wie in Thailand, so gibt es in vielen Ländern Süd- und Südostasiens zahlreiche Menschen, für die ein Auto auch in den nächsten Jahren unerschwinglich sein wird, die aber wirtschaftlich reif für den Umstieg von einem Zehn-PS-Roller auf ein ausgewachsenes Motorrad sind. "Für die Menschen hier in Thailand wie in Indien ist die Hunter 350 ein hochklassiges Motorrad", ist Mr. Lal überzeugt.

Was natürlich nicht heißen soll, dass das Modell für die verwöhnten Europäer nicht attraktiv sein soll. Für Leute, die nicht (mehr) auf der Suche nach Höchstleistungen sind, könnte die Hunter 350 sogar richtig anziehend sein. Denn sie kann und tut alles (völlig problemlos), was man von ihr erwartet. Dass sie mit ihren 20 PS keine Bäume ausreißt, weiß man vorher. Die wahre Funktion des kleinen runden Zusatzinstruments, in dem erst mal nur die Uhrzeit angezeigt wird, wird erst nach der Koppelung des Smartphones offenbar: Hat man eine entsprechende App installiert, verwandelt es sich zur Pfeil-Navigationseinheit. Ob diese Technologie serienmäßig mitgeliefert werden wird, ist noch nicht bestätigt, aber möglich. Ein Mehrwert wäre es allemal.

Der langhubige Einzylinder, selbstverständlich luftgekühlt, Euro-5-konform und in Meteor und Classic während der vergangenen beiden Jahre schon an die 500.000-Mal verbaut, entwickelt seine maximalen Kräfte im mittleren Drehzahlbereich, ist aber dennoch oben raus kein schlapper Kerl. Über anliegende Drehzahlen bleibt der Hunter-Fahrer zwar im Unklaren (einen Drehzahlmesser sucht man vergebens), doch lässt sich bestens erfühlen, ob ein Gangwechsel angeraten ist.

Der 350er sieht nach Stoßstangen und Kipphebeln aus, treibt seine Nockenwelle jedoch ganz modern über eine Kette an.

Bis etwa Tempo 100 beschleunigt die Hunter akzeptabel, danach wird es zäh (zumindest bei den flammneuen Testbikes). Aber weil die Anschlüsse der Gänge stimmen, stellt sich das positive Gefühl ein, im städtischen und vorstädtischen Bereich durchaus adäquat motorisiert zu sein. Die Höchstgeschwindigkeit wird mit 114 km/h angegeben, womit man auf europäischen Straßen gerade so über dem Geschwindigkeitslevel besonders flott gefahrener Lkw liegt.

In der hügeligen Eifel oder im Harz aus dem Vollen überholen wird also nicht gehen; das Aufarbeiten von Autos oder Lieferwagen jenseits der 90 km/h will bedacht und wohl geplant sein (erinnern Sie sich an ihre 125er-Zeiten…!). Ein geschätztes Überlandbike ist die Hunter also allenfalls für Leistungsverächter, doch als Motorrad für Stadt und Region sieht das anders aus: Beim aufmerksamen Ampelstart wird man mit ihr auch in Berlin, Hamburg oder München 98 Prozent aller Schnarchnasen hinter sich lassen, bis die nächste rote Ampel naht.

Royal Enfield Hunter 350 - Details (9 Bilder)

Der Scheinwerfer ist mit Glühfadenlampen bestückt – bei neuen Motorrädern inzwischen eine Rarität.

Die Gänge wechseln sich leicht und präzise, die Kupplung ist allerdings nicht ganz so leichtgängig, wie wir es vermutet hätten. Die Zweischeiben-Anlage bremst bei vertretbaren Kräften sehr ordentlich, das Fahrwerk sorgt für klassengemäße Stabilität und liefert unerwartet hohen Komfort – Bangkoks teils rumpelige Straßen sind ein perfektes Testrevier. Wirklich spürbar sind harte Kanten, beispielsweise Brückenfugen. Die Hunter erwies sich in Bangkok als ausgesprochen wendig, auf einer Kartstrecke als kurvenfreudig und auch im Grenzbereich als gut berechenbar.

Es wird noch bis zur Kölner Intermot Anfang Oktober dauern, bis die Preisgestaltung für die europäischen Märkte und damit auch für Deutschland bekannt werden wird. Für Indien und auch Thailand steht der Preis natürlich fest. In Bangkok kostet sie ab 129.900 Baht, was rund 3600 Euro entspricht. Angesichts eines durchschnittlichen Monatseinkommens der Thai in Höhe von etwa 450 Euro muss man dort also lange sparen, um sich eine Hunter 350 leisten zu können. Ausgehend vom hiesigen Meteor-Preis der preiswertesten Ausführung "Fireball" in Höhe von 3999 Euro tippen wir mal frech auf einen Preis knapp darunter.

(mfz)