Tokyu Corporation: Warum ein japanischer ÖPNV-Riese zurück zur Kreditkarte will

In Tokio und vielen japanischen Städten gibt es eine Flut an Bezahlungsoptionen – für Wenigfahrer und Touristen unschön. Inspiration kommt nun aus dem Westen.

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Bahnsteigsperre mit verschiedenen Bezahlmethoden in Tokio

Bahnsteigsperre mit verschiedenen Bezahlmethoden in Tokio: So langsam wird's unübersichtlich mit all den Bezahlmethoden.

(Bild: Tokyu Corporation)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Wer in Tokio unterwegs ist, nimmt das hervorragend ausgebaute Nahverkehrssystem aus Bussen, Bahnen und U-Bahnen zahlreicher Gesellschaften und einigen Tramlinien. Der König unter den dort sehr vielfältigen ÖPNV-Bezahlsystemen ist Suica, eine NFC-Karte, welche die größte Bahngesellschaft der Region, JR East, vor bald 25 Jahren eingeführt hat. Sie ist immer wieder erweitert worden, die FeliCa-Technologie von Sony, auf der sie basiert, wurde auf das ganze Land ausgedehnt und die Systeme sind untereinander kompatibel. Auch gibt es seit 2016 die Möglichkeit, Suica und zwei weitere kompatible Systeme (PASMO und ICOCA) der Apple Wallet auf dem iPhone hinzuzufügen, zudem wird Suica inzwischen auch von Google Pay unterstützt, wenn auch nicht auf allen westlichen Handys. Und trotzdem glauben einige Tokioter Bahnkonzerne, die Region müsse wegkommen von der Insellösung. Ihre Idee: Eine Kreditkarte mit NFC-Chip oder ein Smartphone mit hinterlegter NFC-Kreditkarte sollen reichen. Gilt also bald: Bye-bye, Suica?

Ein Besuch bei der Tokyu Corporation im Stadtteil Shibuya soll Klarheit bringen. Die bald 115 Jahre alte Privatbahn betreibt allein im Raum Tokio acht Linien, die unter anderem Yokohama mit Shibuya verbinden. Sie ist zudem ein großer Immobilienbesitzer in dem zentralen Stadtteil, ist unter anderem am berühmten Turm Shibuya Scramble Square beteiligt, der die Aussichtsplattform Shibuya Sky beherbergt. "Wir sind eine private Eisenbahngesellschaft, die hauptsächlich im Gebiet von Tokio bis Kanagawa tätig ist, die sich neben dem Transportgeschäft aber auch intensiv mit Stadtentwicklung beschäftigt – und ich denke, dass das ein wesentlicher Unterschied zu JR East ist", sagt Tsukasa Sekine, zuständig für den Bereich Customer Experience. Das heißt: Tokyu kann weiter denken als die aus der staatlichen nationalen Eisenbahngesellschaft JNR hervorgegangene JR East.

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Das neue Bezahlmodell, das Tokyu plant, entspricht dem, was man im Westen kennt. In Europa hat es etwa London vorgemacht: Neben den Papiertickets mit Magnetstreifen und der NFC-basierten Oystercard hat sich dort Tap-to-Go (alias Tap-to-Ride oder Tap-to-Pay) durchgesetzt, das man in der britischen Hauptstadt einfach nur "Contactless" nennt. Dabei muss man einfach seine bestehende NFC-fähige Kreditkarte (oder ein NFC-fähiges Smartphone mit Apple Pay oder Google Pay und hinterlegter Kreditkarte) an die Bahnsteigsperre halten (Touch in) und mit derselben Karte diese am Zielort wieder öffnen (Touch out). Genau diesem Muster folgt auch Suica, mit dem Unterschied, dass es sich dabei eben um ein proprietäres Kartensystem handelt, das sich im Westen nicht durchgesetzt hat. Tap-to-Go scheint hingegen weltweit auf dem Vormarsch: Nach London hat mittlerweile auch New York dieses System übernommen.

Schon jetzt sind die Bahnsteigsperren (Fare Gates) in Tokio und vielen japanischen Städten äußerst ungewöhnlich. Sie akzeptieren neben Suica auch Magnetkarten aus Ticketautomaten, die man beispielsweise auch noch für Fernzüge wie den Shinkansen häufig benötigt, und, je nach Bahngesellschaft, für App-Tickets gedachte QR-Code-Lesegeräte – eine Technologie, die übrigens in Japan erfunden wurde. Genau hier kommt nun auch der reguläre Tap-to-Go-Kartenleser dazu. Es entstehen so wahre Monstermaschinen (siehe Bild), wie Sekine einräumt. "Die Frequenzsignale für FeliCa und Tap-to-Go sind unterschiedlich. Es konnte also nicht dasselbe kontaktlose Bezahlsystem verwendet werden, was dazu führte, dass unsere Automaten so aussahen, wie sie aussehen – nicht sehr kompakt." Daran wird sich wohl auch nicht so schnell etwas ändern, denn auch Tokyu will lieber mehr als nur ein System anbieten. "Wir denken überhaupt nicht daran, von Suica ganz auf Tap-to-Go umzusteigen. Die IC-Karten [Gattungsbegriff für FeliCa, Anm. d. Red.] haben ihre guten Seiten, deshalb wollen wir sowohl IC-Karten als auch die neuen Tap-to-Go-Dienste anbieten."

Die Gründe für Tap-to-Go sind dennoch attraktiv. So gibt es laut Sekine bei japanischen Kunden eine Nachfrage dafür, mit weniger Karten (oder Apps) hantieren zu müssen. "Der zweite Grund ist, dass wir in der Lage sein wollten, die Wünsche von Touristen, die Japan besuchen, zu befriedigen. Es ist zwar nicht so, dass unsere Bahnlinien besonders stark von ausländischen Besuchern genutzt werden, aber der gesamten Region Kanto [in der Tokio liegt] kommt das zugute." Tatsächlich gab es bereits positive Erfahrungen in anderen von Touristen schier überfluteten Gegenden wie Kansai, in dem Kyoto liegt. Schließlich offeriert Tokyu auch noch eine eigene Kreditkarte, die ein eigenes Loyalitätsprogramm mitbringt. So wäre es für die Firma möglich, diese auch für Zugfahrten anzubieten – etwa, was JR East mit Suica ("JRE Point") längst tut. Und natürlich ist die Firma auch an den Daten interessiert, die die Kunden mit den Bezahlkarten generieren.

Das Thema Tap-to-Go interessiert nicht nur die Tokyu Corporation. Seit letztem Jahr wurden auch bei anderen Gesellschaften im Raum Tokio ein Großversuch gestartet und immerhin 36 Stationen mit der Technik ausgestattet. Darunter war der wichtige Bahnhof am Flughafen Haneda durch die Keikyu Electric Railway und insgesamt 26 Stationen der zur Stadt Tokio gehörenden U-Bahn-Gesellschaft Toei Subway auf den Linien Oedo und Asakusa. Der große Konkurrent Tokyo Metro – mehr zu dieser interessanten Gesellschaft, die auch in Europa tätig ist, in einem späteren Beitrag – will kontaktlose Kreditkarten ab März akzeptieren. Die Bahngesellschaft Keio zeigt sich ebenfalls interessiert. Auch das Tokyo Metropolitan Bureau of Transportation ist der Ansicht, dass die Einführung von Tap-to-Go ausländischen Touristen, die keine IC-Karten besitzen, die Nutzung des ÖPNV erleichtern würde. Man strebe an, diese Funktion in Zukunft an allen Toei-U-Bahnhöfen einzuführen, nachdem sie sich im Betriebsversuch bewährt haben, so die Gesellschaft gegenüber dem japanischen Sender NHK.

Während Japan bei Suica mit der Einführung elektronischen (Fahr-)Geldes zu den führenden Ländern der Welt gehörte, hinkt man bei Tap-to-Go noch hinterher. Laut Sekine hat man sich deshalb in Großbritannien, also London, und Singapur deren Einführung angesehen. "Wir haben viel von diesen Ländern gelernt." Man sieht sich in einer Schlüsselposition, um sicherzustellen, dass Tap-to-Go wirklich in der gesamten Region funktioniert. "Es wäre nicht gut, wenn wir das einzige Unternehmen sind, das den Service in der Region Kanto anbietet."

Momentan herrscht wie erwähnt eine Art kreatives Chaos am Fare Gate. Die Bahnsteigsperren sind zu riesigen Geräten geworden, um alle möglichen Systeme abdecken zu können. "Je mehr Dienstleistungen angeboten werden, desto komplexer wird das System, und desto mehr kostet es, damit umzugehen. Unsere Bahnsteigsperren sind ein Beispiel dafür", räumt Sekine ein. Allerdings führt das auch dazu, dass Kunden, die das System verstehen und korrekt anwenden, eine breite Auswahl haben. Es herrscht also Wettbewerb bei den ÖPNV-Zahlungsmethoden – etwas, was man so in westlichen Ländern nicht kennt. Übrigens ist die Tokyu Corporation selbst nicht ganz unbeteiligt, was die Komplexität des Systems anbelangt. Sie hat nämlich eine eigene Web-App namens QSKIP im Angebot, mit der man sich touristische Tickets (für eine japanische Zielgruppe) oder ganze Netzkarten kaufen kann, die es für Suica oder Tap-to-Go schlicht nicht gibt. Entwertet wird das Ticket mittels QR-Code-Lesegerät.

Aber wer weiß, ob es bei dem System bleiben wird. Die mächtige Suica-Mutter JR East würde nämlich gerne das Gesamtsystem umkrempeln und die Fare Gates am liebsten ganz loswerden. Im Rahmen des auf zehn Jahre angelegten "Suica Renaissance"-Plans möchte man auf GPS-Positionserfassung setzen, um die Fahrstrecke zu berechnen. Dann benötigt niemand mehr eine IC-Karte oder ein Handy aus der Tasche zu holen. Daneben möchte man Suica außerdem noch zum universalen Zahlungsmittel machen und beispielsweise die aufladbare Höchstsumme von nur 20.000 Yen (knapp 127 Euro) endlich erhöhen.

(bsc)