Interdisziplinär

Zunehmend ist es Software, die verteilt und vernetzt Fahrzeuge in Betrieb setzt und hält. Mit dem Bachelorstudiengang „Automobilinformatik“ trägt die Hochschule Landshut der Entwicklung seit zwei Jahren Rechnung – ein Interview mit dem Studiengangsleiter.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Barbara Lange

Bei der Erstellung von Hard- und Software für Fahrzeuge geht es um Kooperation: Zum einen müssen mehrere Disziplinen wie Elektrotechniker, Maschinenbauer und Informatiker zusammenwirken, zum anderen entstehen die Komponenten in einem Netz aus Zulieferern und Automobilherstellern. Softwareentwickler müssen interdisziplinär denken und fundierte Entwicklungsmethoden nutzen.

Automotive-Besonderheiten wie das Variantenmanagement und hohe Stückzahlen stellen besondere Anforderungen. Von einer Fertigungsstraße produziert ein Hersteller vielleicht 1000 Stück im Jahr, Automobile aber über 3000-mal am Tag. Softwareabteilungen stehen vor einer doppelten Aufgabe: Sie müssen immer mehr Funktionen mit teilweise hohen Sicherheitsfunktionen realisieren, da ein Auto ohne Software mittlerweile undenkbar ist. Gleichzeitig unterliegen sie einem hohen Kostendruck.

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Zur Person: Prof. Dr. Dieter Nazareth

Prof. Dr. Dieter Nazareth ist seit 2001 Professor für Informatik an der Universität Landshut mit dem Schwerpunkt Automotive Software. Seit 2005 berät und schult er Unternehmen außerdem als Geschäftsführer der AuSEG Automotive Software Engineering GmbH . Seit 2008 lehrt er als Gastprofessor an der Shanghai Jiao Tong University .

Zum Werdegang: Prof. Dr. Dieter Nazareth studierte Informatik an der Technischen Universität München mit dem Nebenfach Elektrotechnik und promovierte dort im Bereich der formalen Software-Spezifikation. Weitere Stationen führten ihn von der BMW AG in München (Leitung „CAE/CASE Methoden“ im Bereich Entwicklung Elektrik/Elektronik) zur Dräxlmaier Group, in der er das Competence-Center für Elektrik/Elektronik leitete.

Standards wie AUTOSAR oder die geplante eigene Automotive-Norm ISO 26262 versuchen, den komplexen Erstellungsprozess zu vereinheitlichen und Regeln für die funktionale Sicherheit festzulegen.

Mit dem Bachelor-Studiengang „Automobilinformatik“ (www.automobilinformatik.de) an ihrer Fakultät Informatik bildet die Hochschule Landshut Spezialisten auf dem Gebiet aus. iX-Autorin Barbara Lange befragte Studiengangsleiter Professor Dr. Dieter Nazareth über die Anforderungen, vor denen Softwareentwickler in seiner Disziplin stehen.

iX: Was leistet der Studiengang mehr als „normale“ Informatik?

Nazareth: Automobilinformatik ist ein sogenannter Bindestrichstudiengang, auch wenn wir ihn in unserem speziellen Fall ohne Bindestrich schreiben. Das heißt, dass neben den Kernfächern der Informatik die Grundlagen für ein spezielles Anwendungsgebiet der Informatik geschaffen werden.

Dies ist prinzipiell nichts Neues. An vielen Universitäten musste man schon immer ein sogenanntes Nebenfach wählen. Das ist auch vernünftig, weil sich die wenigsten Informatiker später mit der Informatik selbst beschäftigen werden, sondern die Informatik in einem Fachgebiet anwenden werden. Wer das Studium nur wegen des Automobils beginnt, wird sehr schnell merken, dass er vielleicht den falschen Studiengang gewählt hat.

Der Studiengang Automobilinformatik ist auf die technische Informatik ausgerichtet und vermittelt darüber hinaus Wissen im Bereich des Fahrzeugbaus, aber auch der Elektrotechnik. Es wird also sehr viel Wert auf interdisziplinäre Ausbildung gelegt. Entscheidend ist dabei, so viel Grundwissen des Anwendungsbereiches zu vermitteln, dass man die Anforderungen der Kollegen in einem interdisziplinären Team versteht.

iX: Wo sehen Sie die Besonderheiten der Automotive-Software-Entwicklung im Unterschied zu anderen Embedded-Bereichen?

Nazareth: Im Bereich der Automotive-Softwareentwicklung wurden sehr viele spezifische Standards entwickelt. Ob das immer gut war, darüber lässt sich streiten. Das fängt bei den Bussystemen im Fahrzeug wie dem CAN oder Flexray an und hört bei Softwarearchitekturen à la AUTOSAR auf. Der Studiengang Automobilinformatik bildet von Anfang an auf diese Standards aus.

Auch die Werkzeuglandschaft ist ziemlich spezifisch. Werkzeuge wie CANoe (Vector Informatik) oder ASCET (Etas) wurden speziell für die Steuergeräteentwicklung geschaffen. Die entsprechenden Firmen bedienen dabei fast ausschließlich den Automobilbereich.

Darüber hinaus gibt es aber auch spezielle Phasen in der Softwareentwicklung, die in anderen Branchen kaum zu finden sind, wie zum Beispiel die Kalibrierung der Software auf ein spezifisches Fahrzeug.

iX: Wie hat die Industrie auf den Studiengang reagiert?

Nazareth: Bis jetzt gibt es ja noch keine Abgänger. Wir starten im Wintersemester erst mit dem 3. Durchgang. Dementsprechend sind die Studenten des 1. Durchgangs jetzt im 5. Semester.

Die Reaktion des Industrie auf den Start des Studiengangs vor zwei Jahren war überaus positiv. Viele Firmen hatten mich damals kontaktiert und ihre Unterstützung angeboten.

iX: Welche Herausforderungen sehen Sie derzeit für die Automotive-Softwareentwicklung?

Nazareth: Eine der größten Herausforderungen ist die stetig steigende Komplexität der Fahrzeugsysteme. Wir werden auch in Zukunft mit einer Funktionsmehrung zu kämpfen haben. Neue Funktionsbereiche wie Car2Car oder Car2Infrastructure werden die Komplexität sicherlich nicht verringern. Auch die neuen Hybridfahrzeuge bringen natürlich neue Aufgaben mit sich. Statt einem Antrieb müssen jetzt gleich zwei Antriebe gesteuert werden.

Dabei bleibt es leider nicht bei der simplen Addition des Aufwands. Auch die Koordination der beiden Antriebe muss durch funktionsübergreifende Strategien erledigt werden.

Gleichzeitig sind wir bei der Anzahl der Steuergeräte am Limit angelangt. Die Herausforderung ist deshalb, mehr Funktionen in einem Steuergerät zu integrieren. Technisch sind wir dabei mit Standards wie AUTOSAR auf dem richtigen Weg.

Ob wir aber mental dazu fähig sind, wird sich zeigen. Nur wenn wir es schaffen, die Software von der Hardware zu lösen, und die alten Zuliefererstrukturen aufbrechen können, werden wir die Komplexität in den Griff bekommen.

iX: Wie unterscheiden sich die Anforderungen an die Softwareentwickler in den Bereichen Infotainment, Car2Car oder Steuergeräte?

Nazareth: Wenn man das Bordnetz betrachtet, dann muss man ganz klar zwischen den klassischen Steuergeräten des Antriebs-, Fahrwerks- oder Karosseriebereiches und dem Infotainment unterscheiden. Die oben genannten speziellen Standards und Werkzeuge werden hauptsächlich im erst genannten Gebiet verwendet.

Der Bereich Infotainment verwendet meist wieder die üblichen Methoden und Werkzeuge der Informatik. Während wir im klassischen Steuergerätebereich sogar die Sprache C einschränken und jegliche dynamischen Konzepte verbieten, um den Speicher- und Laufzeitbedarf exakt abschätzen zu können, werden im Infotainment objektorientierte Sprachen verwendet. Das ist hier auch gefahrlos möglich, weil diese System nicht sicherheitskritisch sind.

Im Zweifelsfall dauert dann die Darstellung einer Navigationskarte etwas länger, was nicht wirklich schlimm ist. Wenn aber die Einspritzung oder Zündung eines Motors nicht rechtzeitig erfolgt, dann kann das schwerwiegende Folgen haben.

Der Studiengang Automobilinformatik konzentriert sich eher auf den klassischen Steuergerätebereich.

iX: Sie sagten, dass Sie die angehenden Automobilinformatiker im Hinblick auf Standards wie AUTOSAR ausbilden. Wie sehen Sie die Akzeptanz von AUTOSAR vonseiten der OEMs und Zulieferer?

Nazareth: Man muss hier sehr genau unterscheiden. AUTOSAR hat ja drei Hauptthemen.

Da ist zum einen die Standardisierung der Basissoftware. Dieses Thema ist eine konsequente Fortführung der OSEK-Aktivitäten [Anm.: Offene Systeme und deren Schnittstellen im Kraftfahrzeug] und wird deshalb wohl ähnlich erfolgreich sein. Ich denke mir, die Automobilhersteller haben verstanden, dass eine Differenzierung der Fahrzeuge nicht über die Basissoftware von Steuergeräten erfolgen kann.

Das 2. Themengebiet ist die Trennung der Anwendungssoftware von der Hardware und die Verteilung von Software auf eine Steuergerätearchitektur. Dieses Thema betrifft natürlich in erster Linie die OEMs, die ja für die Gesamtarchitektur verantwortlich sind. Wie schon erwähnt, muss hier erst mal ein Umdenken in den Köpfen der OEMs und Tiers stattfinden.

Das Thema Standardschnittstellen für Fahrzeugfunktionen sehe ich am kritischsten. Hier ist der Nutzen wohl am geringsten und deswegen wird dieses Thema wohl von wenigen Firmen aufgegriffen werden.

iX: „Geht“ Softwareentwicklung ohne AUTOSAR noch?

Nazareth: Natürlich geht die Softwareentwicklung auch ohne AUTOSAR. Der Einsatz von AUTOSAR-Methoden und -Werkzeugen steckt mit Sicherheit noch in den Kinderschuhen. Einer der größten Treiber ist hier in meinen Augen BMW. Doch auch große Zulieferer wie Bosch nehmen das Thema durchaus ernst und entwickeln ihre eigenen AUTOSAR-Werkzeuge.

Außerhalb Europas spielt dieses Thema sowieso noch kaum eine Rolle. Die chinesischen Automobilhersteller versuchen gerade, ihre ersten eigenen Steuergeräte zu entwickeln.

Wie bereits erwähnt, ist es meiner Meinung nach weniger eine Frage der Technik, sondern ob die Automobilindustrie bei der Entwicklung von Steuergeräten grundsätzlich umdenken will.

Wenn man die Software von der Hardware löst, dann kann man den Hardware- vom Softwarelieferanten trennen. Und dann sind wir bei ähnlichen Strukturen wie im PC-Bereich. Auf einer Hardware des Herstellers X läuft ein Betriebssystem des Herstellers Y und darauf viele Applikationen von unterschiedlichen Softwarefirmen. Ob das im Sinne der heutigen mächtigen Zulieferer ist, wage ich zu bezweifeln.

AUTOSAR ist aber sicherlich ein Baustein, der zu einem durchgängigen Entwicklungsprozess führen kann.

iX: Wie sehen Sie die Rolle der modellbasierten Softwareentwicklung?

Nazareth: Modellbasierte Entwicklung ist schon seit Längerem ein Schlagwort. Doch der Begriff ist sehr dehnbar. Ziel ist es, das Verhalten eines Systems auf einer höheren Abstraktionsebene zu beschreiben. Das ist sicherlich wünschenswert in der frühen Phase der Entwicklung, insbesondere wenn es zum Beispiel um komplizierte Regelungsvorgänge geht. Leider führt das aber auch dazu, dass man oft die wahren Probleme der Softwareentwicklung für eingebettete Systeme wegabstrahiert, zum Beispiel die Knappheit der Ressourcen und Echtzeitfähigkeit.

Zum Schluss ist es ja doch Software, die im Steuergerät ausgeführt wird, und nicht irgendein Diagramm.

iX: Im Bereich Infotainment hört man von Open-Source-Aktivitäten, zum Beispiel der Genivi-Allianz. Wie sehen Sie die Rolle von Open Source und offenen Standards im Bereich Automotive?

Nazareth: Im Infotainmentbereich könnte Open-Source-Software durchaus interessant sein.

Im Bereich der klassischen Steuergerätesoftware kann ich mir das aber nicht vorstellen. Hier haben wir es in vielen Fällen mit sicherheitskritischer Software zu tun. Und letztendlich ist der OEM für die Sicherheit des Fahrzeugs verantwortlich.

Hier gefällt mir hingegen sehr der Weg von BMW, in der Karosserieelektronik selbst die Software zu entwickeln und dann immer wieder für viele Baureihen und Zulieferern zu verwenden. Warum sollte das Rad immer neu erfunden werden. Die Außenspiegelfunktion hat sich zum Beispiel seit Jahren kaum verändert. Deshalb ist es sehr konsequent, die Software dafür immer wieder zu verwenden. Software hat die schöne Eigenschaft, mit dem Alter immer besser zu werden.

Und offene Standards: Hier verweise ich nur auf den Slogan von AUTOSAR: Cooperate on Standards and Compete on Implementation. Ich glaube, dass es inzwischen allgemein anerkannt ist, dass die Basissoftware eines Steuergerätes nicht wettbewerbsrelevant ist.

Und man glaubt es kaum: Mittlerweile schaut die Automobilindustrie sogar über den eigenen Tellerrand hinweg und hat entdeckt, dass es etablierte Standards, zum Beispiel den Ethernet-Bus gibt, den man durchaus auch im Fahrzeug einsetzen kann.

iX: Welche neuen Anforderungen entstehen für Automobilinformatik durch das Thema Elektromobilität?

Nazareth: Wenn man unter Elektromobilität das reine E-Fahrzeug versteht, dann findet hier erst mal ein Vereinfachung statt. Die Ansteuerung eines E-Motors ist von der Komplexität her deutlich geringer als die eines modernen Verbrennungsmotors. Betrachtet man allerdings den hybriden Antrieb, dann steigt die Komplexität deutlich an. Um diese beherrschen zu können, brauchen wir dann natürlich saubere Prozesse, Methoden und entsprechende Werkzeuge, die das unterstützen.

Im Allgemeinen entstehen aber durch die Elektromobilität keine anderen Anforderungen als durch andere Funktionsmehrungen.

iX: Und zum Schluss: Sie sagten, dass Sie einen Lehrauftrag in China haben. Warum China?

Nazareth: Ich bin seit 2008 Gastprofessor an der renommierten Jiao Tong University in Shanghai. China ist nicht nur der größte Automarkt der Welt, sondern auch die größte automobilproduzierende Nation der Welt. Und dabei beschränkt sich die Produktion nicht nur auf ausländische Marken, die in einem Joint Venture lokal gefertigt werden. Es gibt in China mittlerweile sehr viele lokale Fahrzeughersteller, die auf dem chinesischen Markt sehr erfolgreich sind, zum Beispiel SAIC, FAW oder BYD, auch wenn sie in Deutschland noch vielfach belächelt werden. Und diese Firmen produzieren ja nicht nur in China, sondern die Fahrzeuge werden auch hier entwickelt.

Dabei stützt man sich zunehmend nicht mehr nur auf wohlbekannte, weltweit agierende Zulieferer, sondern man versucht, vor allem auch im Elektronikbereich Eigenentwicklungen zu machen. Nahezu jeder lokale Automobilhersteller arbeitet an Motorsteuerungen.

Dass in der Elektronikentwicklung die Softwareentwicklung eine eigenständige Disziplin ist, wurde allerdings noch nicht erkannt. Steuergerätesoftware wird von Maschinenbauern oder Elektrotechnikern entwickelt. Man findet in diesem Bereich praktisch keine Informatiker.

Aber dieses Phänomen ist auch immer noch in Deutschland zu beobachten. Man tut sich auf beiden Seiten schwer.

Die Automobilhersteller und Zulieferer haben auch hierzulande oft noch nicht verstanden, dass Software-Engineering eine Disziplin der Informatik ist und nicht zur Elektrotechnik oder zum Maschinenbau gehört.

Auf der anderen Seite haben aber auch die Informatikstudenten das Anwendungsgebiet Fahrzeugsoftware noch kaum für sich entdeckt. Hier schreckt oft der zu technische Aspekt ab und man beschäftigt sich lieber mit Webprogrammierung.

Deshalb haben auch wir an der Hochschule Landshut Probleme mit den Studentenzahlen. Während Wirtschaftsinformatik boomt, müssen wir in der Automobilinformatik um jeden Studenten kämpfen. Dass die Software dank Bemühungen wie AUTOSAR sich langsam von der Hardware löst, wird hoffentlich helfen, die Disziplin Automobilinformatik zu stärken. (rh)