Was war. Was wird.
Wenn grünkonservative Medienmenschen in Trauer versinken, weil die Revolution mal wieder ganz anders aussieht als in ihren Theorien, dann läuft es doch gut, wundert sich Hal Faber. Die Anarchie hat sich halt noch nie ums Deckchensticken gekümmert.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Wikileaks und kein Ende. Passenderweise könnte neben dem neuen Channel Mac & i locker ein Leakkanal auf Sendung gehen, mit einer Klatschspalte über Assange und die Frauen. Es gibt genug zu berichten, denn mit Wikileaks verwirbeln sich die Fronten gehörig. "Die US-Politik ist ab sofort in ihrer Forderung nach totaler Freizügigkeit im World Wide Web unglaubwürdig." Das schreibt der Behörden Spiegel, ein konservatives Blatt für den öffentlichen Dienst in seiner aktuellen Ausgabe in einem Leitartikel, der auch die Illusionen des Cloud Computing nach dem "digitalen Gehorsam" von Amazon beerdigt und eine nationale Private Cloud fordert. Auf der anderen Seite die ergraute, grünkonservative tageszeitung, die in tiefe Depression versinkt und das unter dem Titel "The revolution will not be downloaded" verkündet.
*** Gegen diese einfach gestrickten Ansichten ist es vielleicht ganz nützlich, einen nostalgischen Blick zurück in die "Jugendjahre der Netzkritik" zu werfen und das nicht nur, weil der deutsche Arm passend zum Packetbombenfest einen ganz wunderbaren Essay-Band kritischer Gedanken zum Web 1.0 herausgebracht hat. Erinnert sei daran, dass von dieser Seite aus zunächst in zehn, später in 12 Thesen die erste fundierte Kritik an Wikileaks formuliert wurde, noch vor dem Ausstieg einiger Aktivisten. Auf diese Thesen gibt es nach den Erfahrungen dieser Woche sechs Anti-Thesen, die bei näherem Hinsehen eher eine Ergänzung sind. Wo sich gerade der Rauch der Low Orbit Ion Cannons langsam verzieht und die Attacken gegen Mastercard, Visa und andere vermeintliche Gegner von Wikileaks eingestellt sind, stellt sich die Frage, ob hier wirklich überwiegend Skript-Kiddies am Werk sind. Kann es denn sein, um mit These 5 zu beginnen, dass ein neuer Sozialisationstyp die Szene betritt, die Werkzeuge virtuos bedient und dabei – anders als Skript-Kiddies und die echten Hacker um 2600 – ein politisches Bewusstsein hat? Oder passt zum blauen Auge, das "Anonymous" den Web-Präsenzen der "Verräter" verpasste, eine große Portion Blauäugigkeit, dies als zivilen Widerstand einzuordnen?
*** Die Gegenthesen erwähnen Hakim Bey und den ontologischen Anarchismus seiner temporären autonomen Zonen irgendwo in der Nähe von Croatanischen Paradiesen. Vielleicht muss man nicht unbedingt in dieser Guerilla-Romantik versacken, aber wenn dieser Rückblick in die Anfänge von 1.0 reicht, dann muss noch einmal das crypto-anarchistische Manifest des Cyphernomicon ausgepackt werden, meinetwegen auch das romantische "Holocaust Education and Avoidance Pod" (HEAP) im Cryptonomicon von Neal Stephenson. Der empfindlichste Punkt, an dem Wikileaks bisher getroffen wurde, war die Möglichkeit, über PayPal das Projekt mit Spenden zu unterstützen. Mittlerweile sorgt ein wackerer Schweizer dafür, dass Gelder fließen, aber ein weltweit von allen Banken durchgehaltenes Wikileaks-Embargo ist in seiner schlicht kapitalistischen Grausamkeit nicht vom Tisch: Immerhin hat Julian Assange angekündigt, dass als nächstes die Machenschaften einer US-Großbank enttarnt werden sollen.
*** Wirklich anonymes, niemals nachverfolgbares digitales Geld, das sicher verschlüsselt flottieren kann, ist die erste Voraussetzung für ein anonymes System, das "die Wahrheit" ungeschminkt veröffentlicht, heißt es im Cyphernomicom gleich mehrfach. David Chaum, der Erfinder dieser Form von Digital Cash, wird als Garant der Crypto-Anarchie bezeichnet. Schließlich konzipierte Chaum neben dem anonymen Geld ein System von Remailern, über die das Geld, aber auch vertrauliche Nachrichten einer verschworenen Gemeinschaft fließen sollte. Bekanntlich gehörte seine Firma Digicash zu den Startups, das früh die Segel streichen musste. Es gibt die Lesart vom Digicrash und einem misstrauischen Chaum, der die hoffenden Hacker bitter enttäuschte. Die andere Variante besagt, dass Chaum an den Ansprüchen der Deutschen Bank scheiterte, eine Hintertür in sein System einzubauen, dass die Prüfung auf Geldwäscheverdacht hin ermöglichen sollte. Die verschlüsselte Mailingliste der Cypherpunker und die Absicht, Digital Cash mit dem Free Speech Amendment und Free Speech mit dem Hinweis auf Digital Cash zu schützen, krepierte ... und inspirierte die nächste Generation um Julian Assange. Die Ideen von Chaum finden sich in der Hackerfibel Underground, die von der iX gelobt wurde.
*** Nun sitzt Assange in Haft im echten Frontline Club von England, in dem Gefängnis, das schon Oscar Wilde begrüßen konnte. Seine Auslieferung ist ein Fall für juristische Halsspaltereien zum europäischen Haftbefehl. Die USA versuchen bei dieser Auslieferung eine aparten Angriff aus der Mitte, die stinkt wie Surströmming. Aus dem Vorwurf der minder schweren Vergewaltigung durch einen ungeschützten Geschlechtsverkehr ist mittlerweile eine Vergewaltigung im Schlaf geworden. Getreu den seit Immanuel Goldstein bekannten Prinzip hat der nächste Blitzableiter seinen Dienst angetreten. Gewöhnen wir uns an den Namen Kristinn Hrafnsson, ohne seine Kondome zu zählen.
*** Den bemerkenswertesten Satz zu Wikileaks hat in dieser Woche ein deutscher Minister gesprochen, zuerst in einer Gipfelrede, dann auf der anschließenden Pressekonferenz, als er versuchte, seine Ansicht über Wikileaks und diesem USA-DDR-Vergleich zu entschärfen:
"Also um das ganz klar zu stellen, es handelt sich um Sammeln von Informationen, und es ist immer ein Unterschied, ob das bei einer demokratisch kontrollierten, gewählten Regierung geschieht oder bei einer Diktatur. Insofern ist das in dem Punkt nicht vergleichbar, aber bei mir löst das Unbehagen aus, wenn man so viel sammelt dabei. Das wollte ich damit ausdrücken. Vielleicht ist der Vergleich etwas überpointiert und kann, wenn man ihn nicht richtig wertet, missverstanden werden."
OK, ein Brüderle ist kein Baum von der Deutschen Grundrechtsrettungsgesellschaft, sondern eher ein schwäbisches Obstgewächs, das mal hier, mal dorthin wächst. Aber Minister Brüderle ist Mitglied der FDP, einer Partei, die ausweislich der von Wikileaks veröffentlichten US-Depeschen einen Maulwurf, ähem, ein Robbenbaby direkt im Büro von FDP-Chef Westerwelle hatte. Die FDP ist außerdem eine der letzten Bastionen, die bei der Vorratsdatenspeicherung skeptisch ist, Wikileaks nüchterner beurteilt und keine Bundessuperpolizei will. Sie ist andererseits die Partei, die nach einem Koalitionsvertrag die elektronische Gesundheitskarte einer kritischen Prüfung unterziehen wollte und selbige nun ohne Prüfung mit Zwang einführen will. Wo ist der nächste Maulwurf, das Robbenbaby oder das Singvögelchen, dass uns über das Gesundheitsrisiko aufklärt, dass diese Partei eingeht? OK, wir sind hier nicht in Nigeria, aber die Frage bleibt im Raum.
*** Ach, der IT-Gipfel. Zu seinen Kuriositäten gehörte es, dass ein Login auf staatliche estnische Web-Angebote mit dem neuen Personalausweis gezeigt wurde, der nahezu nicht lieferbar ist. Oder der dann, wenn er kommt, offenbar Chips enthält, die nicht ausgelesen werden können und daher als "leer" bezeichnet werden. Noch seltsamer ist die Geschichte mit der entdeckten Sicherheitslücke, die vom Projektleiter als inszenierte Sache dargestellt wurde. Nur mal so: Die Sicherheitslücke steckte in der Update-Funktion der "AusweisApp". Diese Update-Funktion war in den Anwendungstests des kommenden Ausweises überhaupt nicht enthalten und wurde erst am 1.11. freigeschaltet. Inzwischen sind in dieser Woche dank einer Zeitung der Konkurrenz die berühmt-berüchtigten Basisleser im Computervolk verteilt worden. Wer will, kann sich mit einem lustigenHacker-Video die Zeit vertreiben, bis Anfang Januar die wichtige AusweisApp freigeschaltet wird, ohne die absolut nichts geht. Danach kommt übrigens im nächsten Jahr, ebenfalls von der Bundesdruckerei produziert, der elektronische Aufenthaltstitel (EAT). Er ähnelt optisch sehr dem schicken Personalausweis-Kärtchen und kann auch "eID". Doch der Fingerabdruck, der bei deutschen Ausweisen optional ist, wird beim EAT zur Pflicht. Irgendwie muss man die doch ordentlich unterscheiden können, diese Ausländer.
Was wird.
Doch halt! Vor diesem Datum startet noch manch andere Kuriositäten-Show. Unter anderem ein Prozess vor dem Landgericht Köln, in dem die De-Mail-Fraktion die Deutsche Post verklagt, weil diese ihren Postident-Service für De-Mail-Kunden sperrt, um ihren eigenen E-Postbrief zu schützen. Auch dieser Streit wurde auf dem IT-Gipfel in Dresden diskutiert, mit amüsierten Kommentaren auch zum zügigen Abschluss. Dass beide Ansätze Kokolores sind, wissen halt die Menschen, die mit IT-gesteuerten Prozessketten vertraut sind. Der erste Bürger, der gegen einen mit De-Mail oder e-Post zugestellten Gebührenbescheid einen Einspruch einlegt, der der Schriftform bedarf, wird merken, wohin der Hase humpelt.
Noch vor dem Showdown im Cologne-Corral ist Wikileaks wieder auf der Agenda. Am Montag geht Openleaks an den Start. Man darf gespannt sein, ob es anders gehen kann als mit der großen Wikileaks-Show. In einem sehr wichtigen Punkt hat Daniel Domscheit-Berg allerdings recht: Die Entscheidung von Wikileaks, die US-Depeschen tröpfchenweise den "bevorzugten Medienpartnern" zukommen zu lassen, widerspricht klar den Prinzipien von Wikileaks. Das zeigen schon die Fälle, in denen verschiedene Fakes die Runde machen. In diesem Sinne gröhlt der Weihnachtsmann Schafft zwei, drei, viele Vietnam!. Oder, um das mal vom Kopf auf die Füße zu stellen: "The revolution will not be televised, the revolution will be live ...". (jk)