Das Energieparadies im Norden

Kein europäisches Flächenland versorgt seine Bewohner sauberer mit Strom als Norwegen. Das Land könnte dem Atomausstieg im Rest Europas einen Schub geben.

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Kein europäisches Flächenland versorgt seine Bewohner sauberer mit Strom als Norwegen. Das Land könnte dem Atomausstieg im Rest Europas einen Schub geben.

Nach Fukushima ist nichts mehr, wie es war. Die Atombranche mag noch dem Glauben verfallen sein, der dortige GAU werde in ein paar Jahren vergessen sein und Kernkraftverfechter wie die USA oder China den Sektor schon nicht fallen lassen. Doch die Wahrheit ist: Nach dieser bislang unvorstellbaren Katastrophe kann sich kein verantwortlicher Politiker mehr darauf berufen, die Technik sei zu 100 Prozent beherrschbar. Wenn ein Reaktorkern nach dem anderen zu schmelzen beginnt, Abklingbecken zu kochen anfangen und Fachleute nur noch die hilflosesten Maßnahmen ergreifen können, ist die Schmerzgrenze erreicht.

Die Frage ist nun, wie es weitergehen soll in der Energieversorgung. Es gibt Berechnungen, laut denen ein Komplettausstieg aus der Kernkraft bis 2020 in einer Art Turbo-Verfahren 230 Milliarden Euro kosten würde. Viel Geld, doch es wären, so sagt Michael Sterner, Leiter der Fachgruppe Energiewirtschaft am Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES), nicht einmal besondere technische Revolutionen notwendig. Es reiche aus, den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben.

Doch wie kann das funktionieren? Es gibt ein Beispiel nicht wirklich weit weg von Deutschland, das Anhaltspunkte geben könnte. Keine 800 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt beginnt dieses energietechnische Paradies. Es heißt: Norwegen. 97 Prozent des gesamten Strombedarfs im Kernland der wachsenden 4,8-Millionen-Menschen-Nation stammen aus erneuerbaren Quellen, vor allem aus der Wasserkraft.

Ein wenig bizarr ist das schon: Als Öl- und Gasland produziert die alte Heimat der Wikinger Jahr für Jahr enorme Mengen fossiler Brennstoffe, verbraucht davon aber fast nichts selbst. Ein einziges großes Erdgaskraftwerk gibt es in dem Land zurzeit, das für die drei Prozent Nicht-Ökostrom steht, die in der obigen Rechnung noch fehlten. Weitere Kraftwerke würden die Energieversorger zwar gerne bauen, doch sie stoßen dabei auf massive Proteste bei Bürgern. Auch die Politik hält sich gerne zurück, hat höchstens sogenannte "Mobilkraftwerke" auf Erdgasbasis erlaubt, die für die Notversorgung genutzt werden dürfen, wenn es irgendwo im Lande einmal zu Wasserkraftausfällen kommt. (Das war bislang noch nicht der Fall.) CO2 entsteht hier nur aus drei Hauptbereichen: aus dem Autoverkehr, aus Industrieanlagen und, wohl am stärksten, der Öl- und Gasproduktion.

Natürlich ist nicht alles so klimapolitisch paradiesisch in Norwegen, wie es von außen scheint. Der saubere Strom hat über viele Jahre eine Kultur der Verschwendung mit sich gebracht. Die meisten Häuser werden elektrisch beheizt, besonders ältere Bauten sind verhältnismäßig schlecht isoliert. Glühlampen in Außenbereichen lässt man hier lieber dauerhaft brennen, als sie auch einmal abzuschalten.

Wird es im Winter in den zahllosen "Hütten", wie die Norweger ihrer Ferienwohnungen nennen, kalt, werden notfalls ein halbes Dutzend energiefressende Elektroöfen angeworfen. Gewöhnliche Heizkörper verwendet man kaum, dafür setzt man auf mächtige Wärmepumpen, wie man sie sonst nur aus Japan kennt, was immerhin etwas Strom sparen soll. Resultat: In keinem Land der Welt ist der Elektrizitätsverbrauch pro Kopf so hoch wie hier, mit weiter steigender Tendenz.

In den letzten Jahren ist zudem der Strompreis mächtig angestiegen, der einst enorm billig war. Die Zeitungen sind seit der Teilprivatisierung des Sektors fast jeden Winter voll von Negativschlagzeilen über neue Spitzentarife – auch wenn die noch unter dem liegen, was man etwa in Deutschland pro Kilowattstunde zahlt. Da mit Strom auch geheizt wird, schlägt jede Erhöhung deutlich auf das Familienbudget durch.

Auch kommt es mittlerweile zu Engpässen in der Versorgung – zwar ohne Blackouts, doch die Kraftwerksbetreiber und der staatliche Infrastrukturbetreiber Statnett warnen. Ist der Winter sehr kalt oder fällt nicht genügend Niederschlag, sinkt der Wasserspiegel in den Reservoirs bedrohlich ab. Die Turbinen können nicht mehr mit voller Leistung laufen. Und so gibt es in norwegischen Medien regelmäßig Berichte über den aktuellen Pegelstand, die so intensiv beäugt werden, wie man in Deutschland von den aktuellen Gas- und Wasserpreisen liest – auch das hat nämlich Auswirkungen auf die Stromkosten.

Lernen kann man von Norwegen, dass eine dezentrale Energieinfrastruktur sehr hilfreich ist. Dies ist hier aus schlichten Sachzwängen so: Die Besiedelung ist dünn, die Wasserkraftwerke an bestimmte Orte gebunden. Kleine Versorger betreiben eigene Turbinenhäuser und befinden sich oft in kommunalem Besitz. Das Leiten von Strom über Land ist angesichts der Topografie nicht immer möglich.

Doch wenn die lokale Leistung einmal nicht ausreicht, muss Energie aus anderen Landesteilen oder notfalls aus Schweden und Dänemark importiert werden. Dazu fehlt es aber in einigen Regionen an ausreichend ausgelegten Leitungen. Die existieren nicht etwa aus finanziellen Gründen nicht – Norwegen ist ein schuldenfreies Land. Der Grund ist ein anderer: Während man in Deutschland gegen Atommeiler protestiert, gibt es bei Ola und Kari Nordmann, wie das örtliche Äquivalent zum Max und Erika Mustermann heißt, schwere Bedenken gegen Strommasten, die ja die Landschaft verschandeln könnten. Und Unterwasserleitungen, die man einfach in den Fjord legt, sind Statnett und Co. dann oft zu teuer.

Parallel zur Wasserkraft versucht man in Norwegen, andere Sektoren der erneuerbaren Energien auszubauen. Dazu gehört vor allem die Windkraft, bläst es hier doch besonders an der Westküste häufig stark. Auch hier kommt es jedoch zu Protesten seitens der Bevölkerung. In der Gegend um Alesund wurde so in den letzten Jahren ein gigantischer Windpark abgeschmettert, nun will man in unbewohntere Gebiete ausweichen. Die Offshore-Technik ist zwar im Kommen, doch warnte der neue Öl- und Energieminister erst kürzlich wieder, es müsse noch viel passieren, bis die günstig genug sei. Das Paradoxe dabei: Weil die Wasserkraft derart billig ist, hemmt es Investitionen in die Windkraft – trotz hervorragender Umweltverhältnisse.

Aber vielleicht könnte Deutschland ja im Rahmen des Atomausstiegs zu einem wichtigen Energiepartner für das Land werden. So viel Wasserkraft, wie sie die Norweger aufgrund ihrer einzigartigen geografischen Struktur mit zahllosen Bergen, Seen und Flüssen haben, lässt sich in unseren Breitengraden natürlich nicht abrufen. Doch gibt es Ideen, die norwegischen Dämme, Pumpspeicher und Reservoirs als eine Art Zwischenlager für Wind- und Sonnenstrom aus Deutschland (und anderen Teilen Europas) zu nutzen. Das Modell: Die unregelmäßigen Strommengen der hiesigen Erneuerbaren werden über Leitungen in den Norden geliefert, wo sie dann die Pumpspeicher füllen, was den Norwegern in niederschlagsarmen Wintern viel helfen könnte. Später wird der Strom dann einfach abgerufen.

Noch fehlt es allerdings an der notwendigen Infrastruktur. Die Norweger sind allerdings dabei, in der Nordsee ein neues Energieverteilsystem aufzuziehen. Und Projekte wie neue Hochspannungsleitungen von Deutschland durch die Nordsee direkt nach Norwegen sind in Planung. Was hier teilweise momentan noch aus Bürokratiegründen aufgehalten wird, könnte sich schnell entwickeln, wenn nur der politische Wille da ist. Vielleicht geben die Lehren aus Fukushima nun die richtigen Impulse. (bsc)