"Ahnungslosigkeit" der Union bei Online-Razzien beklagt

Der Streit um die heimliche Online-Durchsuchung geht auch nach versöhnlichen Worten innerhalb der Koalition unvermindert weiter und reicht nun bis zu Vorwürfen über Unwissen und mangelnder Durchsetzungsfähigkeit der Kanzlerin.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 372 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.

Der Streit über die Befugnis zu heimlichen Online-Durchsuchungen für das Bundeskriminalamt (BKA) geht auch nach versöhnlichen Worten innerhalb der großen Koalition unvermindert weiter. Beide Seiten versuchen nach wie vor, sich über das Thema innere Sicherheit vs. Schutz der Grundrechte zu profilieren. Während Kanzleramtschef Thomas de Maizière (CDU) am Wochenende von einer Möglichkeit zu einer raschen Einigung bei den vor allem von der Union und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble vorangetriebenen Plänen zur Netzbespitzelung sprach und konkret allein den Richtervorbehalt als mögliche Einschränkung für die tief in die Privatsphäre eingreifende Maßnahme hervorhob, konterkarierte der Innenexperte der SPD-Fraktion im Bundestag, Dieter Wiefelspütz, diese Aussage im Gespräch mit dem Handelsblatt entschieden: "Wer glaubt, die Online-Durchsuchung mit dem Hebel des Richtervorbehaltes durchsetzen zu können, signalisiert nur, wie ahnungslos er ist."

Für den SPD-Innenexperten, der prinzipiell ein Befürworter der Ausforschung von Festplatten privater Computer und von Speicherplattformen im Netz unter engen rechtlichen Vorgaben ist, bleibt die entscheidende Frage des Schutzes des Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung nach wie vor offen. "Hier stehen wir noch ganz am Anfang", betonte Wiefelspütz. Er sprach sich erneut dafür aus, bei der Überarbeitung des BKA-Gesetzes die Online-Durchsuchung auszusparen und auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über deren Zulässigkeit zu warten.

In den rhetorischen Schlagabtausch rund um die Terrorabwehr hat sich auch Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) eingeschaltet. Er warf der Union fehlende Zuverlässigkeit und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mangelnde Durchsetzungsfähigkeit vor. "In der Debatte um die innere Sicherheit lässt Frau Merkel Schäuble gewähren. Das ist äußerst problematisch", sagte Gabriel der Zeitung Die Welt. FDP-Chef Guido Westerwelle zeigte sich ebenfalls sehr skeptisch und machte dem Bundesinnenminister klar, dass seine Partei das Projekt der verdeckten Online-Durchsuchung im Falle einer schwarz-gelben Koalition nicht einfach abnicken werde. In Nordrhein-Westfalen hat aber ein Innenminister der Liberalen die jetzt von Karlsruhe zu prüfende Lizenz zu Online-Razzien durchgesetzt.

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und Politiker der Union haben sich anlässlich des Jahrestages der misslungenen Kofferbomben-Anschläge am morgigen Dienstag derweil laut ddp besorgt über die Terrorgefahr in Deutschland geäußert. Der stellvertretende GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut betonte, der zunehmende Reiseverkehr verdächtiger islamischer Extremisten zwischen dem Irak und der Bundesrepublik sei "alarmierend". Die gescheiterten Anschläge hätten gezeigt, dass die Terroristen "nicht mehr nur auf groß angelegte Operationen setzen müssen." Vielmehr würden "eine Handvoll verblendeter und überzeugter Anhänger" ausreichen, "die sich die Zutaten für eine Bombe im Baumarkt zusammenkaufen können".

Witthaut kritisierte aber zugleich, dass "die so genannten Denkanstöße des Bundesinnenministers die Diskussion über geeignete und von der Bevölkerung akzeptierte Mittel für die Polizei zur Bekämpfung des Terrorismus eher erschwert haben. Die Menschen sind verunsichert". Nichtsdestoweniger forderte der CDU-Innenpolitiker Reinhard Grindel zusätzliche Maßnahmen gegen den Terrorismus. Im Herbst werde in der großen Koalition nach der Einrichtung der Anti-Terrordatei über die Schaffung einer "Einlader- und Warndatei" gesprochen, kündigte er an. Hier müssten auch die so genannten Referenzpersonen auftauchen, die dafür bürgen, dass dem deutschen Staat durch den Aufenthalt von Ausländern keine Kosten entstehen. Grindel meint, dass man über diesen Weg zumindest auf einen der beiden Kofferbomben-Attentäter aufmerksam geworden wäre.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) hat derweil scharfe Kritik an der Anti-Terrorpolitik Schäubles geübt. Der Minister wolle offensichtlich ausloten, ob man hierzulande rechtsfreie Räume schaffen könne, sagte die deutsche ai-Generalsekretärin Barbara Lochbihler der Nachrichtenagentur AP. "Seine Überlegung, so genannte ausländische Gefährder präventiv einzusperren, verstößt ganz eindeutig gegen die Europäische Menschenrechtskonvention", betonte die Grundrechtsverfechterin. Auch das gezielte Töten vermeintlicher Terroristen sei mit dem Völkerrecht unvereinbar.

Kurzen Prozess bei einer Online-Razzia hat nach Angaben des Nachrichtenmagazins Focus unterdessen der Chef der Bundespolizei in Chemnitz, Detlef Fritzsch, gemacht. Er soll bei einer heimlichen Durchsuchungsaktion mindestens 50 E-Mail-Konten seiner Beamten ausgeforscht haben. Internet-Spezialisten der Bundespolizei knackten demnach auf Anweisung des Amtsleiters, der 1800 Ermittlern vorsteht, die E-Mail-Accounts der Mitarbeiter, um einen Kettenbrief mit erotischen Fotos zu finden. "Uns fiel nur auf, dass wir uns eines Morgens neue Passwörter ausdenken sollten", meinte einer der Beamten, dessen E-Post Ende Januar durchsucht worden war.

Dass heimliche Online-Razzien technische kein großes Problem seien und die Software bereits existiere und einsatzbereit sei, signalisierte das Bundesamt für Verfassungsschutz gegenüber der Welt. Allerdings ist zur Funktionsweise des so genannten Bundestrojaners hierzulande im Gegensatz zu den USA weiter nur Abstraktes zu hören. Es gehe um die "offensive Überwachung des Internet in seiner ganzen Breite", um "technische Mittel für die Kontrolle von Internet-Telefonie, E-Mail-Accounts, privaten Postfächern und Online-Foren", heißt es in der Kölner Behörde schwammig. Auf Basis einer umstrittenen Dienstanweisung aus dem Haus des Ex-Bundesinnenministers Otto Schily (SPD) hat der Verfassungsschutz nach Angaben der Bundesregierung bereits eine Reihe verdeckter Online-Durchsuchungen durchgeführt. Diese Praxis ist momentan gestoppt.

Die heimliche Online-Durchsuchung von Computern stößt bei vielen Datenschützern und Juristen auf Skepsis. Sie melden grundsätzliche Bedenken an und warnen vor eventuell angestrebten Grundgesetzänderungen. Siehe dazu:

Zu den Auseinandersetzungen um die erweiterte Anti-Terror-Gesetzgebung, die Anti-Terror-Datei sowie die Online-Durchsuchung siehe auch:

(Stefan Krempl) / (jk)