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Was war. Was wird. (inklusive Abschweifungen zum Jahresende)

Ja, war denn was? Unter besonderer und geflissentlicher Berücksichtigung eines etwas längeren Zeitraums: Ja, ein Jahr. Es geht voran. Nur keiner weiß, wohin, merkt Hal Faber an.

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Von
  • Hal Faber

Ja, war denn was? Ja, ein Jahr. Es geht voran. Nur keiner weiß, wohin.

Die Gegenwart ist auch nicht berauschend
zu viele Leute, die mich belauschen
ich weiß noch nicht, wer ich bin
Radio zu hören, das macht keinen Sinn.

Genau: War was? Statt der Marching Band für uns gestandene Kritikaster stimmte Frank Sinatra den Abgesang des Jahres an. My Way bildete die Begleitmusik für den Beginn der Erinnerung an die Zeit unter Schröder. ePässe und der Untergang nicht nur von New Orleans, sondern auch des Traums von US-amerikanischer Allmacht, Vorratsdatenspeicherung und die Zerstörung nicht nur großer Teile von Pakistan, sondern auch des Glaubens an die allgegenwärtige Hilfsbereitschaft der positiv globalisierten Bevölkerung der Industriestaaten – diese extremen Töne, die sich in die hässlichen Hintergrundgeräusche einfügten, sind damit noch lange nicht ausgeklungen.

Aber Du bist Deutschland, was also soll passieren? Dass wir vor Langeweile sterben angesichts dieses vergangenen Jahres. Wie peinlich erscheint im Nachhinein all die Aufregung um das von Bundesköhler bejammerte untergehende Deutschland und um die von den Auguren prophezeite große Wechselstimmung, die dann doch nur in marginalem Wechsel beim politischen Personal ihr Ende fand. Erinnerungen an die Zeit unter Schröder werden uns sentimentalerweise noch lange begleiten, auch wenn My Way davon nicht zu einem entschnulzten Klassiker wird.

Mit den Irrungen und Wirrungen der Hightechbranche oder den Katastrophen des Jahres lässt sich aber kein nostalgischer Blumentopf gewinnen, und Deutschland sind die Hunderttausenden von Kriegs- und Katastrophen-Toten auch nicht. Nostalgie hin, Sentimentalität hin, her: Uns droht nicht nur das Informatikjahr, das ganz amerikanisch plötzlich zum Jahr der Computerwissenschaften mutiert, nein, auch noch Mozarts 250. Geburtstag dräut, der hierzulande ganz unösterreichisch auch schon mal eingemeindet wurde – Du bist Mozart? Ach, lieber nicht, in Deutschland ist's doch nur ein kleiner Schritt vom Österreicher Mozart zum Niederländer André Rieu.

Du bist Rieu? Wem's bislang nicht kalt den Rücken runterlief, der dürfte spätestens jetzt von jedweder deutschtümelnder Euphorie geheilt sein: "Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. [...] Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein." So möchte denn die Wochenschau von Hal Faber, die in diesem Falle gar keine einfache Wochenschau ist, auch jetzt wieder den Blick für die Details schärfen. Und das auch heute, da ein neues Jahr seinen Anfang nimmt.

Was war.

*** Dabei hat es länger gedauert als üblich, doch nun ist 2005 wirklich vorbei. Das Einsteinjahr, das Wirsindpapst- und Dubistmerkeljahr ist Geschichte, das Mozart-, Gödel-, Castro- und Goleojahr 2006 knallt sich eins. Und weil in Deutschland immer im bekannt schlechten Englisch the same procedure than every year ansteht, darf eben ein kleiner Jahresrückblick in diesem WWWW nicht fehlen. 2005 und wie Heisig es sah, gewissermaßen. Geben wir es ruhig zu: Es war pandaschnitzelbärig toll, so toll, dass andere sich das Heise-Maskottchen schnappen und konvertieren, zusammen mit der tibetanischen Antilope.

*** Halt! Ehe ich in Gefahr komme, mit wirrem Blick die Logfiles vom Teleprompter zu köhlern, müssen zuvördert doch noch die Leser bedient werden, die unbedingt pessimistisch gestimmt ins neue Jahr torkeln wollen. Nehmen wir nur die edlen deutschholländischen Hacker, die jammern, dass sie den Krieg verloren haben. Die in bester sozialdemokratischer Tradition Neuwahl^H^H^H^H den Schwanz einziehen, weil niemand auf sie hören will. Fehlt nur noch, dass die ermatteten Hacker das Lied des Geyers Schwarzer Haufen anstimmen: "Geschlagen gehen wir nach Haus ...". Jajaja, es gibt tatsächlich pessimistische Hacker, genau wie es tatsächlich pessimistische Fans des Internet Explorer geben soll. Wem die Ideen ausgehen, der bemüht gerne das Ende der Geschichte und redet von einem neuen dunklen Zeitalter, in dem die Orks triumphieren und die CIA über allen Gesetzen steht. So bleibt nur das Fazit, dass irgendetwas mit der tröstenden Hackerethik nicht stimmen kann, wenn die "Krieger" den Glauben daran verlieren, dass "Computer Dein Leben zum Besseren verändern."

*** Da lobe ich mir doch die journalistische Ethik, die nach Gabriel Garcia Marquez den "Journalismus stets begleiten muss wie das Summen eine Schmeißfliege. Ab und an hat es sich zwar mit dem fröhlichen Summen, wenn man Nachrichten über Kloaken-Blätter lesen muss oder ein Interview mit der eiskalten Marietta Slomka, die Susanne Osthoff "bearbeitet" hat. Doch eigentlich ist das Gesumse, um es in den bärigen Worten eines Wesens von geringem Verstand zu sagen, immer gut für einen Honigtopf. Nehmen wir nur den biometrischen Reisepass, den die Hacker als Zeichen dafür sehen, dass sie den Krieg verloren haben. Journalistisch betrachtet hätten sie ihn niemals verhindern können, weil es in keinem europäischen Land eine öffentliche Debatte über die Einführung dieser Pässe gab. Bleibt ihnen also nur der gute Ratschlag, den Pass einmal neben einem Schweißtrafo liegen zu lassen (nein, nicht die Mikrowelle nehmen), der auf der Frequenz 13,56 Mhz "sendet". Journalistisch sah die Sache etwas anders aus, als zur Einführung des tollen Passes Lichtbildbelehrungen aus allen Teilen der Republik in die Redaktion gefaxt wurden. Belehrungen, die es nach Ansicht des Bundesinnenministeriums gar nicht geben dürfte.

*** Auch Schmeißfliegen können sich irren. Zur Vorbereitung dieser kleinen Jahresschau stöberte ich durch die Tickermeldungen, um selbst ohne die Krücke Statistik einmal den gefühlten Spitzenreiter zu finden. Was könnte den typischen Heiseticker-Lesern so gefallen oder missfallen haben, dass die Nachricht die meistbesuchte Nummer 1 in den "Top 100" des Jahres werden würde? Ich entschied mich zunächst für die Meldung 66982, dann, nach reiflicher Überlegung aber für die Nummer 60335, weil Apples Intel-Volte eine schwer diskutierte Geschichte war. Niete, Niete, sagt mir die Statistik: Mit 161.473 Zugriffen schaffte es die Apple-Meldung nur auf Platz 19, mit 224.889 Zugriffen liegt die Meldung zur Forumszensur von heise online auf Platz 8. Sieger über alles wurde die Meldung über Deutschland bei Google Earth mit 424.913 Zugriffen. Mit deutlichem Abstand folgt auf dem zweiten Platz der Nationale Plan zum Schutz kritischer Infrastrukturen mit 347.781 Zugriffen.

*** Tatsächlich stehen die beiden Spitzenreiter für die wichtigen Trends im abgehefteten Jahr. Google schaffte es gleich drei Mal in die Top Ten des Jahres und 17 Mal unter die Top 100. Wenn man jedoch alle Nachrichten über die Aktionen Otto Schilys zusammen addiert, von der Terrorbekämpfung mittels ePass über die WM-Terrorbekämpfung und die Terrorbekämpfung durch Zugriff auf Passagierdaten bis zur Terrorbekämpfung durch Zusammenlegung der Geheimdienste – dann hat man einen absoluten Spitzenreiter, ganz ohne Nachrichten von Herrn Schäuble, der den Ottomatismus mit Bundeswehreinsätzen im Inland nahtlos fortsetzt. Dem Trend der letzten Jahre entsprechend sind die früheren absoluten Klassiker, die Meldungen über Hardware von Lidl, Aldi & Co weiter abgesackt und liegen im Mittelfeld der Top 100. Etwas überraschend vielleicht die Tatsache, dass es keine Viren-, Würmer-, Phishing- oder Sicherheitsloch-Warnmeldung unter die Top 20 brachte. Ein Loch im Feuerfuchs ist Spitzenreiter in dieser Kategorie und auf Platz 25 gelandet, während es der ach so grimmige Zotob nicht einmal unter die Top 100 brachte. Nehmen wir es als ein gutes Zeichen, dass Heise-Leser ihre Computer im Griff haben und nicht umgekehrt.

*** Die Jahresendgedanken gelten heute Daniil Charms, der vor 100 Jahren geboren wurde und nicht nur bezaubernde Kindergeschichten schrieb: "Die Erde steht auf drei Walen. Die Wale stehen auf einer Schildkröte. Die Schildkröte schwimmt im Meer. Ist das so? Nein, es ist nicht so." Wer sich auf 2006 freut und das Gejammer der Hacker nicht mehr hören kann, der ist reif für die schlichte Wahrheit: "Die Erde hat einfach die Form einer umgestülpten Tasse und schwimmt selber im Meer. Und über der Erde die Mütze des Himmelsgewölbes. An dem Gewölbe bewegen sich die Sonne, der Mond und die beweglichen Sterne – die Planeten. Die Fixsterne sind an dem Himmelsgewölbe befestigt und drehen sich zusammen mit ihm."

Was wird.

Auch das größte Datenmeer, dass im Jahr der Vorratsspeicherung auf den Servern schwappt, kann das Prinzip Hoffnung nicht wegkärchern, wie es die Terrorbekämpfer wollen. Wir sind nicht Deutschland, das im Lichte seines WM-Glanzes brüht, sondern schlicht die Bürger eines Staates, der Grenzen haben soll. So gilt es auch im Jahre 2006, dass auf heise online emsig summend weiter berichtet wird:
– von den Viren, die an der Technik knabbern,
– von den Überwachern, die bürgerliche Freiheiten einsacken wollen,
– von den Plänen der Googles und Microsofts,
– von der künstlichen Intelligenz und ihrem 50. Geburtstag,
– vom Sieg der Frauen ... und der Playstation 3.

Freuen wir uns passend zum neuen Jahr mit den Bürgern von Stockholm, die zum Arbeitsbeginn am Dienstag mit der Citymaut ein Überwachungssystem allererster Güte bekommen, in dem jeder den Nachbarn ausspionieren kann und die Polizei den vollen Zugriff auf Mautdaten zur Starfverfolgung hat. Ja, richtig, freuen, denn die Schweden können ihre Big Brother-Maut in der Schärenstadt am 17. September abwählen.

Am Ende des vergangenen und Anfang des neuen Jahres aber steht nicht Mozart, sondern etwas ganz Anderes: ein Glückwunsch und eine traurige Nachricht. Während wir in Deutschland zu Ehren eines klavierspielenden Geburtstagskindes fröhlich vor uns hindaunern, müssen wir auch den Tod von Derek Bailey beklagen. Der legendäre Free-Jazz-Gitarrist landete eben nicht, wie er es so vielen altersmilde gewordenen Kollegen vorwarf, beim Bossa Nova. Wir werden ihn als großen Protagonisten improvisierter Musik vermissen. Die Musik von Dauner und Bailey aber, die gibt doch auch in Zukunft die Begleitung für eine spannende und glückliche Zeit. Bestehen wir also auf etwas Optimismus:

Die zweite Hälfte des Himmels könnt ihr haben
doch das Hier und das Jetzt, das behalte ich.

Doch halt, ganz zu Ende bin ich noch nicht. Zum guten Anfang fehlt nicht nur etwas Optimismus, sondern auch das
Kolophon.

Viele liebe Menschen, etwas Hardware, ein kleines bisschen Software und eine tapfere Netzadmin, die auch des nächstens noch reparierenderweise eingreift, tragen dazu bei, dass das WWWW erscheinen kann. Auch John Zorn, Aki Takase, Neil Young, Keith Jarrett, RZA, Anthony Braxton, Tom Waits, Public Enemy, Seeed, Albert Ayler, Andreas Scholl, Quadro Nuevo, Ken Vandermark, Matthew Shipp, Quartetto Magritte und was der unwissenden Begleitmusiker noch mehr seien, sie alle helfen. Und wichtiger als ein altersschwaches Thinkpad mit junger Ubuntu-Installation, in Notfällen ein PC von der Stange mit Betriebssystem von der Stange, ein Uralt-Editor, Vino Nobile und Cannonau sowie die Hinweise meiner Lektüre-Dealerin sind die Tipps, die Woche für Woche von den Regulars eintrudeln, von wurgl, faeshn, Tyler Durden, Twister, den Pandaschnitzeln, Wälzlagern und wie sie alle heißen mögen. Ohne euch, als Zuträger wie als Leser, wäre der wöchentliche Kleinkrieg mit den Neben-Nachrichten nicht möglich. Das wird sich auch 2006 nicht ändern. (Hal Faber) / (jk)