"Gottesteilchen" wird real

Physiker am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf haben ein neues Elementarteilchen nachgewiesen, das ein lange gesuchtes "Higgs-Boson" sein könnte.

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Physiker am CERN in Genf haben ein neues Elementarteilchen nachgewiesen, das das lange gesuchte "Higgs-Boson" sein könnte.

Die Stimmung am Large Hadron Collider (LHC) in Genf ist euphorisch, aber auch vorsichtig: Wissenschaftlern des europäischen Kernforschungszentrums CERN ist es erstmals gelungen, ein neues Elementarteilchen nachzuweisen, das ein lange gesuchtes Higgs-Boson sein könnte. In dem Paper unter der Überschrift "Combined search for the Standard Model Higgs boson in pp collisions at $\sqrt{s}$ = 7 TeV with the ATLAS detector" heißt es, man habe das als Urheber der Masse angesehene "Gottesteilchen" an genau der Stelle, wo man es erwartet habe, gefunden – bei 125 Gigaelektronenvolt. Damit läge eine hohe Wahrscheinlichkeit (Sigma=5) vor, dass ein "Higgs-Boson" tatsächlich existiert.

Die Physiker am CERN erhofften sich vom ATLAS-Projekt am Teilchenbeschleuniger LHC schon lange einen entsprechenden Durchbruch. Guido Altarelli, einer der dort beschäftigten Forscher aus dem Bereich der theoretischen Physik, erwartete von dem Nachweis die Lösung eines der größten Probleme seines Forschungszweiges. Das "Higgs-Boson" war der zentrale fehlende Baustein im Standardmodell der Physik. Bereits im Dezember hatte es erste Hinweise auf das Elementarteilchen gegeben. Seither hatten die Forscher versucht, ihre Erkenntnisse zu untermauern und weiter einzugrenzen. Die Suche nach dem "Gottesteilchen" reicht mittlerweile vier Jahrzehnte zurück und ist eine wichtige Grundlage der Teilchentheorie. Es ist nach dem britischen Physiker Peter Higgs benannt.

Bundesforschungsministerin Annette Schavan sagte in Berlin, nach fast 50 Jahren könnte die Entdeckung "nun gelungen sein". "Die Ausdauer und Neugier der Wissenschaftler wurde belohnt. Ich gratuliere den beteiligten Arbeitsgruppen herzlich zu dieser wissenschaftlichen Sensation."

Tatsächlich mussten die beteiligten Wissenschaftler eine erhebliche Frustrationstoleranz beweisen, denn das CERN hatte in den vergangenen Jahren immer wieder mit technischen Problemen zu kämpfen. Das ist nicht erstaunlich, denn als der rund 27 Kilometer lange Ring des großen Teilchenbeschleunigers in den 1990er Jahren konzipiert wurde, lag zwar die Zielmarke fest - die Protonenstrahlen sollten mit jeweils bis zu 7 Teraelektronenvolt Energie aufeinander zurasen -, aber die Technologie, um so etwas zu realisieren, existierte bislang nur auf dem Reißbrett. Die Magnete beispielsweise, die die Teilchenstrahlen auf ihrer Kreisbahn halten, sollten mit über 8 Tesla die stärksten bislang weltweit verfügbaren Felder erzeugen. Über 22 der 27 Kilometer Strecke werden von Magneten eingenommen, die die eigentlichen Strahlröhren umhüllen. Jedes der rund 15 Meter langen Dipol-Teilstücke wiegt 30 Tonnen. 12.000 Ampere Stromstärke sind zur Erzeugung eines solchen Magnetfeldes notwendig - das lässt sich nur mit supraleitenden Wicklungen handhaben, also solchen, die unterhalb einer bestimmten Temperatur jeglichen elektrischen Widerstand verlieren. Die Kabel bestehen aus Niobium-Titanium, eingebettet in Kupfer und Edelstahl. Das Material ist ein konventioneller Supraleiter, der auf unter 2 Kelvin (–271 Grad Celsius) gekühlt werden muss.

Ein Leck in genau dieser Kühlung führte dazu, dass der Beschleuniger nur eine Woche nach dem Anfahren im Jahr 2008 wieder abgeschaltet werden musste. Die ursprünglich geplante volle Energie von 7 TeV pro Strahl hat der Beschleuniger zudem nie erreicht - er ist bis heute nur mit "halber Kraft" gefahren worden. Zum Glück für die beteiligten Wissenschaftler liegt das Higgs-Teilchen allerdings offenbar in einem Energie-Bereich, den der Beschleuniger bereits abdeckt.

Protonen, die Herzen der Atome, werden im LHC mit einer Geschwindigkeit gegeneinander beschleunigt, die fast bei Lichtgeschwindigkeit liegt. Wenn sie aufeinander treffen, werden große Energiemengen frei, die dann in Masse und neue Partikel umgesetzt werden und anschließend in leichtere Partikel zerfallen. Das Higgs-Boson taucht hier nur sehr, sehr kurz auf – so kurz, dass es real nicht sichtbar scheint. Das "Gottesteilchen" wurde nun nachgewiesen, in dem das Zerfallsprodukt analysiert wurde. Und genau an der erwünschten Stelle tauchte es auf.

Das Standardmodell der Teilchenphysik erklärt, wie die Bestandteile des Atomkerns - Protonen und Neutronen - sich aus noch kleineren elementaren Bestandteilen zusammensetzen. Die Grundidee ist, dass es Elementarteilchen gibt, die jeweils auf spezifische Kernkräfte - so genannte Wechselwirkungen - reagieren. Diese Wechselwirkungen werden in der Theorie durch so genannte Austauschteilchen dargestellt. Demnach bestehen die Grundbestandteile des Atomkerns aus Quarks, die Gluonen austauschen und so zusammengehalten werden - ähnlich wie ein Elektron die Protonen eines H2-Moleküls verbindet.

Damit das Puzzle passt, muss man jedoch annehmen, dass es mindestens zwei verschiedene Sorten (Flavour) von Quarks gibt, die unterschiedliche elektrische Ladungen besitzen. Neutronen kann man so beispielsweise aus zwei Up-Quarks und einem Down-Quark zusammensetzen. Teilchen, die dieser starken Wechselwirkung im Kern unterliegen, heißen Hadronen.

Um die zahlreichen anderen in einem Beschleuniger beobachteten Teilchen zu erklären, muss man jedoch noch vier weitere Quark-Sorten einführen. Die oben genannte Kraft zwischen den Quarks durch Gluonenaustausch kommt durch eine neue Eigenschaft der Quarks zustande. Sie wird "Farbe" genannt und tritt in drei elementaren Varianten auf, die in Analogie zur Farblehre Rot, Grün und Blau heißen. Im Neutron neutralisieren sich die drei Farbladungen der Quarks: beobachtbare Teilchen sind weiß.

Das Elektron fällt aus diesem Schema heraus, denn es reagiert nicht auf die starken Kernkräfte. Solche Teilchen werden als Leptonen bezeichnet. Sie reagieren auf die so genannte elektroschwache Wechselwirkung, indem sie ebenfalls spezielle Quanten austauschen. Eigentlich müsste die Masse dieser vermittelnden Teilchen null sein. Allerdings ist nur das Photon masselos. Die Bosonen Z0, W- und W+ besitzen dagegen von null verschiedene Massen. Um dieses Problem zu lösen, haben die Physiker im Standardmodell ein hypothetisches Partikel eingeführt, das Higgs-Boson, dessen Nachweis sich damit als Prüfstein des Standardmodells erweist. (bsc)