"Nach oben offen prägt sich besser ein"

Der Seismologe Thomas Kenkmann spricht im TR-Interview über Erdbeben-Messverfahren und die Genauigkeit der Richter-Skala.

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Von
  • Udo Flohr

Der Seismologe Thomas Kenkmann spricht im TR-Interview über Erdbeben-Messverfahren und die Genauigkeit der Richter-Skala.

Kenkmann leitet die Abteilung Geologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Technology Review: Herr Professor Kenkmann, warum ist die Richter-Skala nach oben offen?

Thomas Kenkmann: Ist sie gar nicht. Die Richter-Skala von 1935 ist eigentlich auf eine maximale Amplitude von 6,5 ausgelegt, denn Seismografen zeichnen nur bis zu einer bestimmten Auslenkung korrekt auf. Stärkere Beben werden nach der Momenten-Magnituden-Skala gemessen.

TR: Warum hat sich das trotzdem so eingebürgert?

Kenkmann: Nach oben offen prägt sich halt besser ein als nach oben erweitert.

TR: Was macht die Magnituden-Skala anders?

Kenkmann: Richters Skala misst nur den stärksten Ausschlag. Bei der Momenten-Magnituden-Skala hingegen werten wir – mit einem relativ komplexen Umrechnungsprozess – das ganze Spektrum der Wellen aus. Das sogenannte seismische Moment kann man aus der Wellencharakteristik errechnen oder auch nachträglich ermitteln, indem man sich die Nachbeben anschaut: Sie umreißen die Größe der Bruchfläche.

TR: Was genau ist die Bruchfläche?

Kenkmann: Spannungen in der Erdkruste, die von innenbürtigen Kräften stammen, führen dazu, dass einzelne sogenannte Lithosphärenplatten sich gegeneinander bewegen. Dabei verhaken sie sich ineinander, Bewegung staut sich auf. Irgendwann überschreitet das die Festigkeit des Gesteins, und es kommt zum Bruch – die gesamte Spannung wird quasi momentan abgebaut unter Freisetzung dieser Energie.

TR: Der Ruck versetzt das Gestein in unterschiedliche Schwingungen?

Kenkmann: Genau. Wir registrieren zunächst sogenannte Longitudinalwellen, sie haben die höchste Laufgeschwindigkeit. Kurz darauf kommen die Scherwellen an, die transversal verlaufen – also senkrecht zur Ausbreitungsrichtung. Schließlich die Oberflächenwellen, sie verursachen die größten Schäden und produzieren auch die größten Ausschläge.

TR: Nach oben offen ist die Magnituden-Skala aber wiederum auch nicht, sie endet de facto bei 10,6 – richtig?

Kenkmann: Korrekt. Die Erdkruste bricht bei jedem Erdbeben auf, normalerweise auf endlicher Länge – beim Japan-Beben zum Beispiel 400 Kilometer. Bei der Überlegung, 10,6 sei das maximale Erdbeben, stellt man sich hingegen eine – vertikal orientierte – Bruchfläche vor, die die Erdkruste komplett durchtrennt. Dann kann sie nicht mehr weiter wachsen. So ein Erdbeben hat es glücklicherweise noch nie gegeben.

TR: Ist die Richter-Skala auch nach unten offen?

Kenkmann: Ja, negative Werte sind möglich. Einen Seismometer- Ausschlag von einem Mikrometer in 100 Kilometer Entfernung vom Herd des Erdbebens legte Richter als Nullpunkt fest. Ausschläge von weniger als einem Mikrometer, die zu Richters Zeit noch nicht erfasst werden konnten, ergeben demnach negative Werte. (bsc)