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Was war. Was wurde. Ein Jahresendevorspiel.

Was kann das Jahresende schon bringen als die Ballade vom armen Hal Faber? Aber der schert sich nicht drum: Denn interessant war es, das Jahr, und lässt sich doch nur mit Galgenhumor ertragen.

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich – und dieses Mal wie  immer  zum  Jahresende  nicht  nur  und nicht alleine für die Woche, sondern sie versucht, das ganze Jahr ins Blickfeld zu bekommen.

Was ist. Vorspiel, noch nicht im neuen Jahr.

So sei es: Auch in diesem Jahr kann sich die Wochenschau dem allgemeinen Endjahrestrend, der in gewissen Medien bereits im November einsetzt, ganz zum Schluss doch nicht entziehen. Schauen wir ein bisschen zurück, um dann erfrischt ins Jahr des Stadtaffen zu schwingen. Kein Sound of Silence, kein Oratorium zum Niedergang, vielmehr der Klang der locker durchtänzelten Krise. Denn sind wir nicht alle ein bisschen Stadtaffe? Oder, um den Wahrsager Brecht zu zitieren: "Es gab niemals einen Gedanken, dessen Vater kein Wunsch war. Nur darüber kann man sich streiten: Welcher Wunsch?" Da hat man den Neujahrskater dann doch schon heute, und freut sich, dass es das erst einmal war. Umwälzungen fänden in Sackgassen statt, meinte ebenfalls Meister Brecht. Na, da steht uns ja 2009 einiges bevor.

Oder doch nicht? Herr Köhler und Frau Merkel jedenfalls erklären Ruhe zur ersten Bürgerpflicht, Gottvertrauen ist angesagt. Das mag man halten, wie man will: "Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: "Ich rate Dir, nachzudenken, ob Dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich Dir wenigstens so weit behilflich sein, dass ich Dir sage, Du hast Dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott." Wie das aber mit dem Vertrauen ist, das sei erst recht dahingestellt. Möglicherweise hat man ja auch nur zu tief ins ausgesoffene Rollmopsglas geschaut. Ob das auch schon als Kaffeesatzleserei gilt? Wie auch immer, ...

Was war, was wird, die Jahresend-Edition

***... uff, uff, uff – die Sonderschinderei namens Metis ist vorbei, das Jahr kann gehen. Rund 1000 meiner Texte aus dem Internet sind gemeldet, für weitere 1000 Veröffentlichungen in Digitalien fehlte schlicht die Zeit. Mögen sie in Frieden ruhen, tantiemenlos beerdigt. Heute wird das alte Jahr zu Grabe getragen, das neue eingeläutet, es ist The Same Procedure As Every Year, ein Ritual der Stillstellung der Zeit und der Statistik, die seit den Tagen von Miss Sophie oder auch August Bebel die wichtigste Wissenschaft in der neuen Gesellschaft ist. Bekanntlich meinte der Ur-Ur-Opa der SPD, dass mit der Statistik als Messlatte jede gesellschaftliche Tätigkeit gemessen werden sollte. Er kannte halt Zwerge wie Steinbrück und Steinmeier nicht, für die ein Schullineal völlig ausreicht.

"Aber darum muss man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen."

*** Womit ich schnurstracks in die Statistik springe und bei Herrn Heilmann ankomme. Nicht Obama, Gates oder der kranke Steve Jobs, sondern der Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann von der Partei Demokratischer Sperrungen brachte es mit seiner Aktion und Reaktion auf den ersten Platz in der Gunst der Tickerleser, noch vor Sarah Palin und einen bekannten Rechtsanwalt, der die Leserschaft zu mehr als 4000 Kommentaren und einer Orgie in Grün animierte. Allerdings ist Lutz Heilmann mit 279.184 PIs nicht einmal der Rekordhalter in Sachen Wikipedia, da liegt momentan Atze Schröder vorne. Und um in der ewigen Bestenliste ab 1996 Otto Schily mit 352.996 PIs einzuholen, müsste Heilmann schon als Unheilmann auftreten und mindestens Keylogger für alle Computer- und Telefon- Tastaturen fordern.

"Denken ist etwas, das auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht."

*** Bei den politischen Themen dominierten die Meldungen vom "Bundestrojaner" respektive zum BKA-Gesetz mengenmäßig das Jahr 2008, obwohl sie nicht zu den beliebtesten Themen des Nachrichtentickers aus der norddeutschen Tiefebene gehörten: Nur zwei Meldungen schafften es in die Liste der Top 100 und da nur auf die Plätze 93 und 98. Wayne interessiert's, könnte man provozierend fragen, wo doch selbst die tageszeitung beruhigend feststellt, dass das neue, von Präsident Köhler unterschriebene BKA-Gesetz für wenige herausragende Journalisten gilt, die partout über den Terrorismus berichten wollen. Im größeren Umfeld der weiter zunehmenden staatlichen Überwachungsaktivitäten muss man freilich auch andere Meldungen der großen Politik zuschlagen. So schaffte es die Meldung vom Chaos Computer Club und seiner Veröffentlichung der Fingerabdrücke von Wolfgang Schäuble mit 138.655 PIs auf Platz 15 der Top 100. Ob freilich die frisch ausgesprochene Empfehlung der Nerds, mit Schäubles Spuren und einer Urkundenfälschung "Selbstschutz" zu betreiben, eine gute Idee ist, darf bezweifelt werden.

"Ganz allgemein sollte gelten, dass jedes Land, in dem besondere Sittlichkeit nötig ist, schlecht verwaltet ist."

*** In erster Linie ist der Nachrichtenticker jedoch den IT-Nachrichten gewidmet, womit die spannende Frage nach der Topmeldung des Jahres 2008 ganz entspannt beantwortet werden kann. Platz 1 wie Platz 3 gehen an Googles Chrome, dazwischen liegt nur die Meldung über das neue Verschlüsselungssystem von Premiere. Mit 205.107 PIs reicht es der Chrome-Meldung auf dem ersten Platz in der ewigen Bestenliste nur zu einem Platz im Mittelfeld. Unumstritten ist hier die Meldung über Deutschland in Google Earth mit 524.913 PIs der Spitzenreiter. Ansonsten bietet die Statistik wenig Überraschungen: Google und Microsoft dominieren bei den Firmen, mit großen Abstand folgt Apple, das vor allem dem iPhone seine prominente Platzierung verdankt. Aus der Produkt-Perspektive betrachtet waren 2008 die verschiedenen Netbooks bei der Hardware die absoluten Renner, wenn man die Angebote aller Hersteller zusammenrechnet. Ebenso deutlich dominierten Meldungen zu den Service Packs von Windows XP die Software-Sparte. Schwenken wir ins Reich der Zocker, so hält nach den PIs das Spiel World of Warcraft die Pole-Position, allerdings mit Meldungen über Komatöse und Tätowierte.

"Der Denkende benützt kein Licht zuviel, kein Stück Brot zuviel, keinen Gedanken zuviel."

*** Recht konstant über mehrere Monate hinweg sicherte sich die Firma Nokia bei den negativ bewerteten Nachrichten mit der Schließung ihres Bochumer Werkes den Spitzenplatz. Das knapp vor der Deutschen Telekom, deren "Produktpalette" an Einzelmeldungen von Bespitzelungen über Datenverluste bis zu Entlassungen allerdings deutlich breiter angelegt ist. Ob negativ oder positiv, ist schwer umstritten, doch gewichtet nach den PIs und den zugehörigen Leserkommentaren hat diese Meldung in eigener Sache den Rest der Nachrichten um Längen geschlagen.

"Denn es ist eine Kluft zwischen oben und unten, größer als
Zwischen dem Berg Himalaja und dem Meer
Und was oben vorgeht
Erfährt man unten nicht
Und nicht oben, was unten vorgeht
Und es sind zwei Sprachen oben und unten
Und zwei Maße zu messen
Und was Menschengesicht trägt
Kennt sich nicht mehr."

*** Doch das Leben ist bekanntlich ein großer breiter Fluss und so lohnt es sich, einen kleinen Blick auf die Spitzenreiter der jeweiligen Monate zu werfen. Das Jahr begann mit der bereits erwähnten Spitzenmeldung zum Verschlüsselungssystem und einer ganzen Serie von Einzelmeldungen zum Abschied von Bill Gates von der IT-Bühne. Im Februar sorgte die Videoüberwachung in Kombination mit einem Hundehaufen für eine Diskussion über den Datenschutz. Im März katapultierten die Leser eine Nachricht mit dem schönen Titel Und ich sach noch an die Spitze. Im April schaffte es wider Erwarten kein Aprilscherz, sondern eine Analystenmeinung zum kollabierenden Windows-Universum auf die Pole Position. Den Mai dominierten Meldungen zu Service Packs, darum sei auf einen knappen Verlierer verwiesen. Haben Eltern wirklich ihr Baby in der Bucht versteigern wollen? Im Juni dominierte das Erscheinen von Firefox 3 die Meldungen, während im Juli ein Schnuckelchen das Rennen machte. Neben dem neuen Newsticker erhitzte im August eine Debatte um den wieder konkurrenzfähigen Internet Explorer die Gemüter. Mit 20.391.901 PIs sorgten die Top 100 im September für eine Rekordspitze, nicht nur dank Google Chrome. Der Oktober ging wiederum an Microsoft, das mit mehreren Nachrichten über Windows 7 eine Debatte über Evolution und Revolution in der Software anfachte. Zwei Wikipedia-Sperren durch den bereits benamsten Bundestagsabgeordneten und durch britische Provider stellten die Top 100 im November und Dezember, wobei die Zahlen des letzten Monats noch im Fluss sind. Deshalb sei auf diese Selbstanzeige eines Heise-Redakteurs zum Hackerparagraphen verwiesen, momentan die Meldung mit den meisten Zuwächsen.

"Es ist ungemein wichtig, sich immer zu fragen, von was der abhängt, der vor einem fährt."

Und sonst so? Wohlfeiles Jammern über die Kreditkrise im Angesicht neuer Eskalationen in Nahost ohne Aussicht auf einen Waffenstillstand? Feiern der kubanischen Revolution? Im Jahre 2008 ist Joseph Weizenbaum gestorben, einer, der immer den Kurs auf den Eisberg kritisiert hatte. Der Nachrichtenticker reagierte auf diese betrübliche Nachricht mit der erstmaligen Einbettung der Nachricht in die Navigationsspalte: Einen kritischen Kurs halten, das ist notwendiger denn je.

"Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber."

Was wohl wird. Ja, ist denn schon 2009?

Gute Vorsätze sind frei nach Oscar Wilde Schecks, die auf eine Bank ausgestellt werden, bei der man kein Konto hat. Die Kanzlerin wünschr uns allen wieder ein "erfülltes und gesegnetes Jahr", doch wie sich dieses 2009 füllt, ist derzeit noch Sache der Glaskugelforscher. Es gibt ausgesucht dämliche Prognosen wie besonders düstere. Es gibt sogar Prognosen, die Abschiedsgrüße sind. Hinzu kommen die Glaskugellektüren, die anscheinend riskant sind und welche, die es sofort riskieren. Denn mal Butter bei die Fische: Twitter kauft Digg. Facebook kauft Twitter. Google kauft Facebook. Und StudiVZ wird an Wer kennt wen verschenkt.

"Die kleinen Verbrechter verletzten nur die Spielregeln der Selbstsüchtigen. Diese Spielregeln sind aber das Verdammungswürdigste."

Nach dem bewährten 2008er Prinzip des Web 2.gähn, auch bekannt als "Andere Arbeiten Lassen", haben sich die Leser dieser kleinen Wochenschau selbst an die Prognosen für das nächste Jahr gewagt. Sie sind einerseits überaus erfreulich ausgefallen, andererseits auch ziemlich düster: endlich wird [Hurd] installiert und die Wikipedia weltweit gültiger Unterrichtsstoff. Mit Linda gibt es lizenzfreie Kartoffeln. Die nunmehr in Kraft getretene Vorratsdatenspeicherung von Internet-Verbindungen und die Speicherung von Mail-Adressen bei großen Providern wird dank der Verfassungsbeschwerde gekippt. Getreu der Erkenntnis, dass das BKA-Gesetz keineswegs dazu da ist, Terroristen zu jagen, wird nicht nur der Besuch von Ausbildungslagern unter Strafe gestellt, sondern auch die Teilnahme an Hard-Drive-Parties. Prognostiziert wird auch das Verbot von Kryptografie und das Ende dieser Kolumne. Aussagen zu Aktien und dergleichen habe ich ignoriert, da ich nichts dergleichen besitze, nicht einmal Ahnung. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit um mindestens 2 Millionen ist keine Prognose, sondern im Gang.

"Wenn der Kapitän ein Genie sein muss, sind seine Instrumente wohl unzuverlässig."

Ja, das Positive kann manchmal schrecklich grau sein. Einen habe ich noch. Dummschwätzer ist im Wahljahr 2009 keine strafbare Schmähkritik, sondern kann eine Bewertung konkreter Aussagen sein. Mit solchen D-Wörtern wird man in einer Demokratie leben müssen. Dummschwätzer, Dinosaurier, Demagoge. Diese Liste kann erweitert werden.

Zum endgültigen Schluss des Jahres sei aber noch für ein paar Sachen besonders gedankt: Dass die Foren auf heise online erhalten bleiben (und das auch ohne Löschungsanforderungsorgie der User) , etwa, und dass es eine noch nicht abgeschlossene  Diskussion über die Nutzungsbedingungen gibt. Und mir selbst, dass ich endlich, endlich auf Opera umgestiegen bin und Firefox dahin getreten habe, wo er in seiner gegenwärtigen Verfassung hingehört, Open Source hin, Open Source her: in die Tonne. Und natürlich sei meine Buchhändlerin in lobender Treue erwähnt, zu der ich auch in diesem Jahr nur allzu oft erwartungsvoll hechelnd stürmte, nicht nur, um den neuen  Pynchon schon ein paar Tage früher zu bekommen, nicht nur, um mit der prachtvollen Neuausgabe der Haefs-Übersetzungen von Kiplings Dschungelbüchern bekannt gemacht zu werden, nicht nur, um die Werke des Hölderlin-Freundes Boehlendorff abzustauben. Aber es beginnt, wie es endet, wie es begann, mit Brecht, und einem Gedanken an jemand völlig anderen:

"Der, den ich liebe
Hat mir gesagt
Dass er mich braucht

Darum
Gebe ich auf mich acht
Sehe auf meinen Weg und
Fürchte von jedem Regentropfen
Dass er mich erschlagen könnte".

(Hal Faber) / (jk)