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Was war. Was wird.

Don't give up? Genau, auch wenn's manchmal schwer fällt in diesem entsetzlichen und herrlichen und unmusikalischen Land, seufzt Hal Faber nicht nur eingedenk all der deutschen Schlösser und der Knödelbarden und der diversen Zukünfte.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Was ist das für ein entsetzliches Land, in dem Modern Talking als die Dreizehnten unter den besten Musikstars aller Zeiten gezählt werden, in denen André Rieu, Sarah Connor und Roy Black unter die zehn wichtigsten Musikern zu rechnen sind, die die Deutschen kennen. Ach, was für ein entsetzliches Land – aber halt, stopp, was soll die Nörgelei – all das bildungsbürgerliche Getue, dass sich in den Feuilletons und Medienseiten breit machen wird, ist doch auch nur Geschwätz, während die Bild-Zeitung die Zeichen der Zeit erkannt hat. Also Stopp, das war nix, fangen wir noch einmal von vorne an ...

*** Was ist das für ein herrliches Land, in dem die Einwohner mit heiterer Selbstironie einen knödelnden Moralisten zum wichtigsten Musikstar aller Zeiten wählen, einen neuzeitlichen Bänkelsänger, der den Bürgern in genau das Gewissen redet, das sie eigentlich gar nicht haben wollen, und dessen Wahl doch gleich mal das Erhabenheitsgefasel des vor sich hin salbadernden Johannes Baptist Kerner ad Absurdum führt. Aber ach, es ist doch alles nicht so, dass man Geduld haben, dass man sich in Gelassenheit üben könnte. Wenn man schon froh ist, dass Deutschlands König Rio Reiser, die Fabulierer von den Fantastischen Vier oder die Heulboje Xavier Naidoo überhaupt auf der Liste "Unsere besten Musikstars" auftauchen, wenn man schon froh ist, dass Scooter nur auf Platz 47, Tokio Hotel nur auf Platz 23, Pur nur auf Platz 16 und die Höhner nur auf Platz 11 landeten ... Nein, manchmal ist es bei aller Liebe genug.

*** Das Grauen! Das Grauen! Ein auch in Deutschland ab und zu zu empfehlendes Rekurieren auf Kurz beziehungsweise auf die Ereignisse, die ihn zu dem machten, als was er endete, verhindern doch immer wieder allzu viel Larmoyanz oder Zynismus. Aber nirgendwo liegen Grauen und Hoffnung so nah beieinander wie in diesem Land, und das nicht nur auf Musikbestenlisten und bei anderen Ereignissen, sondern auch in Orten wie Mittweida. Denn das Grauen fängt nicht erst dann an, wenn der swingende Männerwitz Roger Cicero meint, er könne Rio Reisers "König von Deutschland" zum Besten geben. Dann ist die Grenze zum Grauen schon weit überschritten.

*** Ach, was soll's. Was reg ich mich auf. Wenden wir uns also vom Grauen ab und lieblicheren Dingen zu. Ich könnte meine verehrte Leserschaft mit einer Geschichte aus dem schönen Hannover nerven, das wieder ein Schloss bekommen soll, mit einem Konferenzzentrum und einem Kutschenmuseum innen drinne, damit im Messe-Mekka der CeBIT-Summit einen Top-Rahmen erhält, wie unser Bürger-Meister das sagt. Aber ich tue es nicht. An einem Tag, an dem der große Laurence Sterne Geburtstag hat, wäre es ziemlich stillos, nicht vom Thema abzukommen und beispielsweise das schöne Schloss zu beschreiben, das Braunschweig bekommen hat, mit einer Big-Bang-Mall innen drinne. Sterne hätte das gefallen: Als Agnostiker predigte er in drei Gemeinden und spann so manchen bizarren Gedanken, was man mit Kirchen machen könnte.

*** Stattdessen verliere ich lieber ein paar Worte über das schöne Berlin, das auch ein Schloss bekommen soll und ein gutes Dutzend neue Denkmale, darunter ein Denkmal der deutschen Einheit und ein Denkmal für den unbekannten Politiker. In Abwandlung meines Letztlings mit dem dem Bielefelder Ich-Denkmal schlage ich für Berlin ein "Denknicht" vor, ein Sockel mit einem hübschen 129a obendrauf, vielleicht flankiert von den Schrottcomputern, die der Sozialwissenschaftler Andrej Holm vom BKA zurückbekommen hat. Wer seine kleine Erzählung Im Kreis gelesen hat, von der schlichten Google-Suche bis zum leise ironischen Versuch, die Computersicherheit der Rechner auf den neuesten Stand zu bringen, lernt mehr über die Arbeit des BKA als auf einer Herbsttagung der nämlichen Behörde. Dort konnten ausgewiesene Staatsanwälte Unsinn vom Ereignisraum Internet als Gegenstand von Ermittlungen erzählen. In virtuellen Welten wollen die Polizisten zuschlagen. Die virtuelle BKA-Asservatennummer am eigenen Rechner darf man sich dazudenken. Alles Märchen? Mein Kind, gewöhn dich dran.

*** Und wie war das jetzt mit dem Grauen in diesem Land? Eben. Wechseln wir also nicht nur das Thema, sondern auch das Land. In der Schweiz ist in dieser Woche die European Futurists Conference zu Ende gegangen, gewissermaßen das Gegenstück zur BKA-Herbsttagung, das sich optimistisch mit dem kollektiven Cyberbewusstsein beschäftigte und mit sprechenden Frühstücks-Yoghurts, die einem die Nachrichten vorlesen. Alles wird unheimlich schön sein, wenn es das Malochen bis ins Grab nicht mehr gibt, weil der Tod kein Karrierehindernis ist. Bis zur schönen neuen Singularität ist es freilich noch etwa hinne, wie eine Pizzabestellung im Jahre 2015 zeigt. Zu düster? Na, dann warten wir doch einfach auf die Gemütsaufheller, von denen der Bielefelder Ehrenbürger Stanislaw Lem in seinem futurologischen Kongress berichtet.

*** QED: Das Grauen haust eben nicht nur in diesem unserem Lande, mit gefeierten Knödelbarden und mit mal wieder ach so überraschtem öffentlichen Entsetzen über Neonazis. Da die Leser dieser Kolumne abgehärtet sind, solls das aber noch nicht gewesen sein: Wechseln wir erneut das Land. In Großbritannien sind 25 Millionen Datensätze auf Wanderschaft. Noch sind sie nicht aufgetaucht oder benutzt worden, doch hat das große Suchen erst angefangen. Adressvermarkter haben freimütig zugegeben, dass die verlustigen CD ihnen ein paar Millionen Pfund wert wären. Technisch ist der Verlust dem Versender TNT anzulasten, organisatorisch steht Premierminister Gordon Brown und seine Regierung im Regen wie Startrainer Steve McClaren, nur ohne Schirm. Brown hatte als Schatzkanzler im Jahr 2004 Steuerbehörde und Zoll zusammengelegt, um 25.000 Stellen einzusparen. Einer der neuen Sachbearbeiter, der die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen nicht kannte, tütete die CDs ein, nachdem er die gesamte Datenbank ohne Federlesens lesen konnte. 25 Millionen Bürger, die das Formular Child Benefit Claim ausgefüllt haben, können nicht mehr den schönen Satz "Ich habe nichts zu verbergen" sagen. Und alle freuen sich auf die Einführung von Personalausweisen mit biometrischen Daten, die eingeführt werden sollen, um terroristische Anschläge zu verhindern. Soso. Die Ärzte, die mit Attentaten in Glasgow und London scheiterten, waren in der Datenbank des Nationalen Gesundheitsdienstes mit Biometriedaten gespeichert.

*** Immer noch nicht genug? Wechseln wir ein letztes Mal das Land. Es gilt, das Jubiläum eines ebenso bizarren wie wunderbaren Hacks zu feiern. Während alle Welt über die angeblich ach so tolle Apple-Werbung "Don't give up" jubiliert, ist der Anti-Cola-Hack vor 20 Jahren von den Max Headroom-Piraten leider in Vergessenheit geraten. Technisch wie inhaltlich mit all den Anspielungen gehört er zu den herausragenden Kulturgüter-Hacks unserer Zeit, die natürlich niemand interessiert. Blättern wir nach vorne, dröhnte vor 15 Jahren der Starfire-Film uns EDV-Journalisten die Birne zu, eigens für die Einführung von Suns Enterprise-1000-Sytemen produziert und das Jahr 2004 schildernd. In ihm taucht erstmals das Interface von diesem ultimativen Gadget auf, das verständige Menschen als Jesusphone bezeichnen: Erlöse uns von allen Interface-Übeln. Als entfernter Angehöriger einer anderen Richtung, die noch auf den Messias von Nokia wartet, preise ich derweil Starfire, weil in dem Film Bücher zu sehen sind. Deswegen feuerte der zuständige Manager von Sun Microsystems im Jahre 1992 den Produzenten des Filmchens mit der Begründung, dass 2004 niemand mehr Bücher im Regal hat, sondern eBooks liest. Und überhaupt: Don't give up ist immer noch der Klassiker von Peter Gabriel und Kate Bush.

*** Uff, geschafft, das Grauen hat ein vorläufiges, aber leider nur zeitweises Ende, zumindest sind wir wieder bei Musik angelangt, die sich anhören lässt. Und dass die Hoffnung zuletzt stirbt, zeigt ein leider nicht verlinkbarer Text der Süddeutschen Zeitung, in dem an diesem Wochenende Heron als Erfinder der ersten Roboter gefeiert wird. Seine programmgesteuerten Theaterwagen rollten und kurvten, offenbar mit Schauspielern besetzt, auf der Bühne herum und stoppten, wenn Schleifen in das Steuerungsseil eingeflochten waren. Damit gilt Heron als Vater aller Programmierschleifen.

Was wird.

Die Vorratsdatenspeicherung wird kommen, allen Protesten zum Trotz. Abgesegnet vom Parlament und verschärft vom Bundesrat, allen sozialdemokratischen Abgeordnetenbauchschmerzen zum Trotz, denn in solchen Fällen hat der Arsch noch immer den Bauch entsorgt. Flüchtig werden sich manche daran erinnern, dass die Abfragen der Ermittler auf schwere und schwerste Fälle der Kriminalität beschränkt sein sollten. Mittlerweile ist auch die Verfolgung von Urheberrechten in den Maßnahmenkatalog eingedrungen. Das Schema ist bekannt: Die Kontoabfragen bei den Banken sollten nur die organisierte Kriminalität betreffen, doch heute sind sie bei Hartz-IV-Empfängern die Regel.

Ähnlich wird es der Online-Durchsuchung ergehen, die angeblich nur für herausragende Fälle gedacht ist und zehn bis fünfzehn Mal im Jahr gestartet wird, weil die Programme angeblich handgeschnitzte Unikate sind. Dabei haben es die Schnitzer eilig, nachdem der oberste Online-Durchsucher den Entwicklungsstopp aufgehoben hat: "Aufgrund der Kurzfristigkeit möchte ich Sie vorab per E-Mail über das weitere Verfahren für die Ausschreibung BKA 22/2007 (Entwickler/in / Programmierer/in (mit der Qualifikation Hochschulabschluss)) informieren." Wenn dieser kleine Wochenrückblick im weltweiten Terrorraum Internet auftaucht, ist Clock 0:00 die Frist verstrichen, innerhalb derer sich Top-Programmierer bewerben können.

Etwas weiter läuft die Uhr bei einem offenbar nicht wirklich geglücktem Update der Hartz-IV-Software A2LL, wie das Erwerbslosenforum berichtet: Ab kommenden Samstag, den 1. Dezember wird es spannend, ob Donald Duck sein Geld bekommt oder in ein Obdachlosenheim umziehen muss, für das die Behörde dann doch die Kosten übernimmt, als Gnadenbrot. Derweil berichten gewisse Medien so, als ob die mutmaßliche Panne bereits stattgefunden hat. Das ist eine gebratene Ente oder sonst ein Dodo-artiger Vogel am Thanksgiving Day. Womit uns das Grauen wieder im eisernen Griff hat und ich den geneigten Leser in die kalte, einsame Nacht entlasse. (Hal Faber) / (jk)