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Was war. Was wird.

Zahnbürsten, Rasierer und Mobiltelefone werfen triviale Fragen auf, denen Hal Faber nicht nachgeht. Er outet sich lieber als Nach-68er und schwelgt in Bösgläubigkeit.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Proletarier! Ideeller Web-Gesamtarbeiter! Pauperisierter Hungerblogger! Heraus zum 1. Mai! Ein Bierchen gekippt, die Stimme gestählt und los geht's, mit Bertold Brecht:

Vorwärts und nicht vergessen
und die Frage konkret gestellt
beim Hungern und beim Essen:
Wessen Morgen ist der Morgen?
Wessen Welt ist die Welt?

Wem gehört die Welt? Was wird aus Tempelhof, wenn ein starker Arm es will? All das sind Fragen, die die kleine Wochenschau aus der norddeutschen Tiefebene nicht beantworten kann. Möglicherweise gibt es eine Patentlösung, die man schmetternd aus tausend Kehlen unter roten Fahnen vortragen kann, aber wenn es sie gibt, dann hat der Weltgeist das Patent darauf und der ist zickiger als die Patentabteilung von Microsoft.

*** Vorwärts, Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber! Vergesst das Vergessen! Wer will sich denn noch an eine Zeit erinnern, als Flops ohne Mega auskamen? Wer will sich wirklich um die 189 Computer, 328 Laptops und 271 Mobiltelefone kümmern, die die Bundesbehörden von 2005 bis 2007 irgendwo vergessen haben? Nicht zu reden von den 38 Speicher-Sticks mit Informationen der Geheimhaltungsstufe VS-Vertraulich. Beamte sind schließlich nichts anderes als IT-Berater ohne IT-Kenntnisse. Wer Berge von Vorschriften im Kopf behalten muss, kann sich doch nicht um Datensicherheit und Datenschutz der anderen Behälter kümmern. Da könnte ja jeder kommen.

*** Vergessen wir erst einmal in einer leichten Übung das letzte WWWW mit seinen Anmerkungen über gedankenverbrechende Journalisten und den zahlreichen Anspielungen auf Orwells Roman 1984, auf die Proles und das Leben von Winston Smith in Ozeanien. Damit machen wir es genauso wie die Hannoveraner Informatiker, die zur Übung im Seminar die Aufgabe bekamen, ein Datenbanksystem zur Überwachung der Telekommunikation der Bürger von Ozeanien zu programmieren. Die besten Lösungen der Hausaufgabe werden dann in einer Datenbank-Superdatei verfasst, wie das bei uns mit der Antiterror-Datei gemacht wird. Ja, statt Orwell ist die Orwellness gefragt, in der die Überwachung der Bürger eine alltägliche Sache ist.

*** Überwachte Bürger, wenn sie nicht gerade Goldstein heißen, haben sich ordnungsgemäß an ihre Überwachung zu gewöhnen und selbige schleunigst zu vergessen. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Bürger bösgläubig wird und beispielsweise Überwachungssender in "verbotener Eigenmacht" abmontiert, wenn sie nicht Bestandteil des neu erworbenen Autos sind? Man stelle sich nur vor, wenn Bürger in verbotener, verbohrter Eigenmacht damit anfangen, ihre Wohnungen mit Systemen zu versehen, die den rechtgläubigen Eintritt von BKA, BND und Verfassungsschutz registrieren. Nun hat jener bösgläubige Bürger, dem der Peilsender untergejubelt wurde, weil ihm der Staat nicht glaubte, eine Rechtsanwältin, die alle bekannten Adressen von Guck&Horch-West angeschrieben hatte, damit der Sender wieder zu seinen Lausch-Herrchen kommen kann. Nun steht das Landeskriminalamt doof da, komplett mit seinem vergessenen Sender.

*** Immerhin passt es gut zum eigenen Innenministerium, das seinen Datenschützern misstraut. Wer den unlängst veröffentlichten Tätigkeitsbericht der Datenschützer liest, kommt im Abschnitt zur Antiterror-Datei voll auf seine Kosten: "Das Innenministerium zog als übergeordnete Stelle die Beantwortung an sich und beantwortete die Fragen nur auszugsweise – mit dem erläuternden Hinweis darauf, dass die Weitergabe der Daten an das Bundesverfassungsgericht beabsichtigt sei." Da, wo einstmals im Reich der Dänen die drahtlose Kommunikation revolutioniert wurde, herrscht Funkstille, weil Beamte die Datenschützer für Petzer halten, die mit dem Wissen über die Antiterror-Datei gleich zum Gericht rennen. Die Konsequenz: Kein Bürger wird erfahren können, ob er in einer Unterdatei steckt, es sei denn, er schreibt gutgläubig über 40 Adressen an, ob sie bösgläubige Inhalte haben. Vergessen wir das lieber.

*** Vergessen wir an dieser Stelle nicht, dass in der dahin siechenden Beck-PD nach Siggi "Pop" Gabriel und Diddi "Sachbuchmacher" Wiefelspütz ein neuer Star aufgetaucht ist. Begrüßen wir Sebi "Was soll der Scheiß" Edathy. Er fand zwar schon im letzten WWWW mit seinen Zensuransprüchen gegen eine mutmaßliche Journalistin Erwähnung, beschrieben von einem, der, huch, Offizieller des Journalistenverbandes ist. Nun ruft sich Edathy mit einer Drohung mit der Staatsanwaltschaft gekonnt ins Gedächtnis zurück. Wie schreibt der Mann so schön auf Abgeordnetenwatch? "Meine Privatsphäre geht Journalisten nichts an, insofern war die Interviewfrage auch nicht 'humorvoll', sondern unverschämt." Eine durchaus vernünftige Position, die nur schnell in der Politik vergessen wird, wie der Entwurf für das BKA-Gesetz zeigt, nach dem die neue Superpolizei den Bereich der privaten Lebensführung entkernen und pulverisieren kann.

*** Vom Dezember 2007 bis zum Februar 2008 hatte Ernst Uhrlau vergessen, dass der Bundesnachrichtendienst ausweislich seiner Homepage lügt: "Mit dem Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gehen wir verantwortungsbewusst um und wahren den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit." Von Juni 2006 bis November 2006 wurde der Computer des afghanischen Minister Amin Farhang angezapft. Als Beifang dieser Aktion wurde die Kommunikation mit einer Spiegel-Journalistin abgefangen. Die dabei eingesetzte Überwachungstechnik dürfte entgegen unsinniger Meldungen kein Bundestrojaner gewesen sein, sondern mit der von Siemens gelieferten Technik nach Kabul gekommen sein, mit der das komplette Netzwerk abgehört werden konnte. Nun klagt Minister Farhang, dass nach all den Veröffentlichungen seine Familie in Gefahr ist. Die aber lebt ganz vergessen in Deutschland und muss nun vom BKA und dem nordrhein-westfälischen LKA bewacht werden: Wenn die Arbeitsbeschaffung für unsere Terrorjäger nur immer so einfach wäre. Ganz nebenbei scheint Herr Farhang bei seiner Mail-Kommunikation mit deutschen Journalisten seine deutsche Mail-Adresse benutzt zu haben, ganz wie in seiner Zeit als Dozent an der Universität Bochum.

*** Vergessen wir nicht, dass IOC-Vizechef Thomas Bach in dieser Woche zugegeben hat, der Siemens AG anlässlich der Olympischen Spiele in Athen beim Einsatz des C4I-Systems Vermittlungsgespräche mit dem Bundeskanzleramt geführt zu haben. C4I kommt aus der Militärtechnik und steht für Command, Control, Communication, Computers and Intelligence, für den universalen intelligenten Leitstand. Zugegeben, C4I klingt schicker als die chinesische Bezeichnung Goldener Schild, doch sollte es nicht davon ablenken, dass beim Sicherheitsnetz der olympischen Sommerspiele das schon in Athen erfolgreiche Konsortium die Technik liefert. Nur Siemens nicht. Das Unternehmen hat zwar Aufträge im Werte von 1,1 Milliarden Euro erhalten, aber das doch bittschön nur für die Steuerungstechnik von zwei U-Bahnen und die Gepäckbeförderungsanlage am Flughafen. Wenn da mal nicht vergessen wurde, die eine oder andere C4I-Lieferung rauszurechnen: 100 Millionen Euro Schmiergelder hat sich Siemens den C4I-Spass in Athen kosten lassen. Aber Bösgläubigkeit kommt vor dem Fall.

*** Es gibt Leser, die diese kleine Wochenschau nicht mögen, sie aber dennoch lesen. Dabei kommen sie auf allerlei seltsame Gedanken über 68er-Vergangenheiten und pseudoelitäre Musikgeschmäcker. Nun bin ich für einen 68er nicht alt genug, hatte aber diese jammernden 68er-Lehrer in der Schule und das bis zum Erbrechen. Wäre mein Musikgeschmack stehen geblieben, so müsste ich ihn womöglich mit Andreas Baader teilen. Auf der anderen Seite zeigen die in dieser Woche gestarteten Podknaste auch nicht gerade die schönste Musike. Darum höre ich Opportunist lieber Stücke, die meine Abnehmer hören und lese echte 68er-Sätze wie diesen zur Rudi-Dutschke-Strasse: Sicherlich ist es historisch gerecht, dass sich die Bild-Zeitung, die gerade erst nach Berlin gezogen ist, samt Axel Springer AG nun an der Dutschke-Straße wiederfindet. Sicherlich ist es von hoher Symbolik, dass die große, schöne Dutschke-Straße Vorfahrt hat: Es symbolisiert die Vorfahrt gesellschaftlicher Bewegungen vor den ökonomisch fixierten Interessen von Wirtschaftsunternehmen.

Was wird.

Proletarier! Heraus zum 1. Mai! Ach, das hatte ich schon? Wie konnte ich es nur vergessen? Väter! Heraus zum Vatertag! Webbies! Heraus zum Tag des Online-Shoppings, zum Kampftag des Vergessens! Allen Wayback-Maschinen und Speichervorrichtungen zum Trotz sind viele Web-Frühwerke längst verschwunden. Sinnigerweise dokumentieren ein paar Bücher von damals die Anfänge, komplett mit beigelegten CDs, weil das Online-Surfen von Webseiten einmal teuer und sehr, sehr schleppend war. Wer lästerte damals, als rec.arts.movies auf einmal ein Hypertext-Frontend hatte? Komisch, auch das habe ich vergessen. (Hal Faber) (ps)