Die schlimmen Scheusale der Motorradmesse Eicma

Tentakelmode aus Mailand

"Motorradfahrer haben sich verändert", warb die Motorradmesse Eicma in diesem Jahr. Das Plakat zeigte eine Dame mit Modehelm, langen Haaren und einem Kind im Arm. War die Eicma eine schlimmere Horrorshow der Scheusale als sonst oder werde ich alt? Das Datenmaterial sagt: beides stimmt

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

"Motorradfahrer haben sich verändert", bewarb die Mailänder Motorradmesse Eicma ihren diesjährigen Auftritt. Das Plakat zeigte eine Dame mit glitzerndem Modehelm auf dem Kopf, perfekt gebürsteten, arschlangen Haaren und einem nackten Kind im Arm. Die verantwortliche Werbeagentur hatte also jeglichen Kontakt zur Realität verloren. Sehen wir über Kleinigkeiten wie den Helm oder die Haare, dieses große Problem aller langhaarigen Fahrer, sehen wir auch über den bescheuerten Helm hinweg, bleibt die Kernthese mit dem Kind: Die ist nachweislich falsch. Für real existierende Motorradfahrer ist ein Kind im Kommen im statistischen Schnitt der Grund, sich ein langsames Altmotorrad zu kaufen, die Fahrzeit zu reduzieren oder das Hobby bis auf weiteres gleich komplett auszusetzen. Wofür das Kind definitiv kein Anlass ist: auf eine Motorradmesse zu gehen. Wer die Eicma dagegen interessant fand: jeder Freund der Apokalypse. Denn Europas Motorradmärkte stagnieren nicht wie die gesättigten Automärkte, sondern der Zweiradbereich befindet sich vielerorts geradezu im freien Fall.

Deutschland ist da eine trügerische Oase der Fastseligkeit mit einem unmerklich wegschrumpfenden Markt. In unseren europäischen Finanzkolonien dagegen gibt es immer wieder über Nacht Einbrüche, bei denen die gesamte nationale Motorradindustrie abends in die Kneipen muss für einen strammen Schnaps, vom Händler bis zum Verlag. Wir sehen uns morgen am Arbeitsamt. Die immerwährende Finanzkrise macht es eben schwer, dass sich breite Volksschichten ein Freizeitfahrzeug leisten können. Besserung ist keine in Sicht. Seit 2006 bin ich zum Beispiel oft in Spanien. Nirgends kann man die physikalischen Auswüchse parasitärer Bankster-Zockerei besser sehen als dort. Die Bauruinen und Geisterstädte sind das außen sichtbare Geschwür des innen kranken europäischen Bankensystems. Die Krise ist nicht vorbei, egal, wie oft die Blase angeblich geplatzt ist. Es fasziniert mich jedes Mal wieder neu, wenn ich nachts durch das apokalyptische Skelett eines Riesenhotels spaziere, das nie fertig werden wird, weil es keinen Bedarf gibt. Oder man sieht eine unfassbare Feriensiedlung im Nirgendwo für Niemanden, und bei beiden ist klar, wo das Damoklesschwert noch hängt: Diese nichtswerten Abszesse stehen in irgendwelchen Bilanzen immer noch als echte Werte. Dabei gibt es in den Geisterstädten oft weder Straßen noch Strom noch Wasser. Irgendwann wird jemand nachschauen und eine weitere Bankenrettung bestellen müssen, damit alle weitermachen können wie bisher, dankeschön.

Schnell alles Geld ausgeben!

Bevor man sein Geld also in Immobilienfonds anlegt, gibt man es besser für ein Motorrad aus. Diesem sowieso schon widernatürlichen Vorgehen steht jedoch obendrein der Zeitgeist entgegen. Christian Persson fasste es gut zusammen, als er mich auf Motorradaktivitäten ansprach: "Findste das nicht ein bisschen unzeitgemäß?" Doch, das finde ich unzeitgemäß. Deshalb ist es ja so toll. Es ist besser als diese Zeiten. Und die Sitten, die auch. Aber ich bin halt nicht massenkompatibel, so gern ich das wäre ("OMG! Eine zehntausend-Jahre-Uhr! Das MUSS doch JEDER geil finden!" Und dann zirpen die Grillen in der leeren Nacht). Deshalb glaube ich, dass wir am allgemeinen, unumkehrbaren Abstieg stehen, irgendwo in der Gegend des europäischen "Peak Motorrad" sind, also nicht dem Gipfel der Verkaufszahlen insgesamt, sondern dem Gipfel der Verkaufszahlen europäischer Hersteller, die in einem schrumpfenden Markt immer mehr verkaufen, indem sie die seltsam hilflos wirkenden japanischen Marken verdrängen. Motorrad fahren wird zu einer Art Vinylplattensammeln für Russisch-Roulette-Spieler werden: gleichzeitig anachronistisch UND auf eine vom Mainstream nicht mehr zu verstehende Art gefährlich. Gerade in solchen Zeiten finden jedoch die schönsten oder bizarrsten Blüten vergehender Pflanzen statt. Das zeigt die Vergangenheit. Das zeigt aber auch diese Eicma.