Netzpolitik: Nach dem Snowden-Jahr nicht zurück zur Tagesordnung

Experten haben für den "Jahresrückblick Netzpolitk 2013" von iRights in den Rückspiegel und die Glaskugel geblickt. Nach den Enthüllungen über die Aushöhlung der Privatsphäre müsse der Kampf für die Grundrechte neu beginnen.

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Wissenschaftler, Journalisten und Blogger haben für den "Jahresrückblick Netzpolitik 2013–2014 " von iRights.media in den Rückspiegel und die Glaskugel geblickt. Sie lassen in dem am heutigen Dienstag erscheinenden Sammelband auf 174 Seiten keinen Zweifel daran, dass das zu Ende gehende Jahr untrennbar mit den Enthüllungen Edward Snowdens und den damit verknüpften politischen und technischen Reaktionen verbunden bleiben wird. Nun müsse der Kampf für die Privatsphäre und die Grundrechte neu beginnen.

Die Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC), Constanze Kurz, rückt in ihrem Beitrag neben der massiven Internet-Rasterfahndung den Lesern vor allen noch einmal die "kolossalen technischen Kapazitäten" ins Bewusstsein, mit denen die Geheimdienste den Daten "zu Leibe rücken". Allein für das auch vom Bundesnachrichtendienst benutzte Auswertungsprogramm XKeyscore würden auf siebenhundert Servern pro Monat 41 Milliarden Datensätze aufgezeichnet, also im Schnitt zwischen ein und zwei Milliarden pro Tag. "Wir können nach dem Snowden-Jahr 2013 nicht zur Tagesordnung übergehen", schreibt die Hackerin. Sonst drohe eine "durch und durch andere Gesellschaft" als die, "in deren Geist die Menschenrechtskonvention, die EU-Charta oder das Grundgesetz entworfen wurden".

In dem Buch, dessen Titel ein Konterfei des NSA-Whistleblowers Edward Snowden in einer Straßenszene in seinem ersten Zufluchtsort Hongkong ziert, macht der Kolumnist Sascha Lobo 2013 als Jahr aus, in dem "anhaltende Grundrechtsbrüche und die Abschaffung jeder Privatsphäre zum Alltag wurden". Das Internet habe über Nacht "jede jugendliche Unbekümmertheit verloren", sei erwachsen geworden. Große Teile der Politik in den meisten westlichen Staaten seien davon überzeugt, "dass ein Kontrollstaat ein erstrebenswertes Ziel ist". Derartige Schritte hin zu einem modernen Totalitarismus müssten verhindert werden.

"In der digitalen Zeit sind die Systemeinstellungen einiger politischer Systeme längst auf totale Überwachung als default gesetzt worden", warnt die Medienforscherin Miriam Meckel. "Die Gedanken sind frei? Nicht mehr, wenn sie ausgelesen, dokumentiert und weiterverbreitet werden können." Denken werde "dann vielleicht auch irgendwann nicht mehr straffrei" sein im Sinne vom "Thoughtcrime", das George Orwell in "1984" beschreibt.

Die Zerstörung von Festplatten des Guardian mit Snowden-Dokumenten im Auftrag höchster britischer Regierungsstellen und die damit ausgeübte "Gewalt gegen den Computer" beschreibt der Digitalkultur-Kenner Dirk von Gehlen als "hilflosen Versuch, einen reißenden Strom mit bloßen Händen zu stoppen". Die Abgesandten hätten verkannt, dass die Digitalisierung und der damit verknüpfte Gedanke des öffentlich Prozesshaften Kunst, Kultur, Journalismus und Politik zu Software machten. Diese werde in Versionen ausgeliefert, "nicht mehr in einem unveränderlichen Werkstück". Wer noch gestalten wolle, müsse "die Bedingungen des Digitalen dafür nutzen".

"Eine Zeit des Rollbacks" in der Internetregulierung sieht Michael Seemann heraufziehen. Es gebe wenig Hinweise darauf, dass die Netzszene in der Lage sei, dem viel entgegenzusetzen. Er appelliert an die Community, "einige ihrer sicher geglaubten Narrative" zu hinterfragen. Sie müsse wieder "Anschluss finden an die gesellschaftlichen Debatten, die wirklichen Probleme der Menschen". Redaktionsleiter Philipp Otto bemerkt dazu bereits im Vorwort: "Bis heute existiert keine positive Definition einer digitalen Gesellschaft." Es sei zu klären, "wie wir mit den neuen Möglichkeiten" leben wollen.

Neben dem Überwachungsskandal und Datenschutz bilden Big Data sowie das Urheberrecht und verwandte neue Spielarten wie das Leistungsschutzrecht für Presseverleger im Netz Schwerpunkte der zum zweiten Mal erscheinenden Publikation. Wie bereits im Vorjahr ist der Rückblick als Print- und E-Book für 14,90 beziehungsweise 4,99 Euro im Buch- sowie im Online-Handel erhältlich. Die Texte stehen unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-ND 2.0 de, die eine weitere Veröffentlichung bei Nennung der Autoren und der Quelle ohne Veränderung des Inhaltes erlaubt. (anw)