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Was war. Was wird.

Wer erklärt uns das Internet? Na? Ja, genau, es sind grausige Zeiten, schaudert es Hal Faber. Aber Kapitulation? Höchstens in der Musik ...

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** "Ich bin jetzt immer da, wo Du nicht bist, und das ist immer Delmenhorst" – ach, ja, könnte man manchem entkommen, dann würde man sich sogar in Delmenhorst niederlassen. Denn auch die schönste Stadt der norddeutschen Tiefebene schwelgte in wohlfüligem Konsenspop. Ja, genau, Silbermond: Schlager für die gehobenen Stände; Schnulzen für das intellektuelle Publikum, das auch mal einfach nicht nachdenken will. Und wenns dann doch noch ein bisschen gutes Gewissen zusätzlich sein darf, gibt es ja Wir sind Helden. Oh je. Ich tröste mich mit meinen derzeitigen Lieblingen Angles, Terence Blanchard und Avishai Cohen; glücklicherweise muss man für die nicht nach Delmenhorst. So weit weg muss man auch sonst gar nicht gehen; ohne sich in der eigenen Paranoia zu suhlen oder sich in eine Jugendbewegung zu wünschen: Etwas mehr Tocotronic, etwas mehr Element of Crime, etwas weniger Juli, Silbermond und Wir sind Helden – ja, das täte diesem Land schon gut.

*** Womit wir natürlich auch wieder beim Stadtaffen wären. Ja, durch die Stadt weht ein rauer Wind; und auch wenn alles laut ist und bunt und blinkt, ist das Grauen nicht weit. Es sind grausige Zeiten: Mit Silbermond, Juli und Wir sind Helden in den strapazierten Gehörgängen beobachten wir, wie Herr zu Guttenberg beim Versuch, einzelne Firmen zu retten, die deutsche Sprache in einen seltsamen Mix aus BWL-Speak und Soziologen-Geschwurbel verwandelt. Derweil macht uns die Neue-Deutsche-Traumfrau-Literatur-Schreiberin Amelie Fried die Lese-Domina und Ursula von der Leyen den Internet-Erklärbär. Ja, grausige Zeiten, in denen es heißt, von China zu lernen, in denen eine gehörige Portion Masochismus dazugehört, sich auch nur zum Spaß als Von-der-Leyen-Fan zu outen. Grausige Zeiten, in denen man schon Angst haben muss, jemand könnte Satire für bare Münze nehmen. Bleibt nur noch Kapitulation? "Alle, die disziplinieren, sie müssen kapitulieren! Alle, die uns kontrollieren, sie müssen kapitulieren!"

*** Ach ja, es gibt halt Dinge, die ändern sich einfach nicht. Dazu gehört auch die immer noch weit verbreitete Haltung, Europawahlen seien nicht wichtig. Aber weit gefehlt. Offensichtlich nehmen die EU-Parlamentarier das, was eine repräsentative Demokratie ausmacht, noch wichtiger als die meisten Bundestagsabgeordneten. Man mag nicht allen Entscheidungen des EU-Parlaments selbst zustimmen – so ist der Lauf der Demokratie. Doch zeigen nicht erst einige Entscheidungen der letzten Wochen, dass die EU-Parlamentarier offener für Diskussionen und Entscheidungen im Parlament zu sein scheinen als der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete. Wann wurden zuletzt im Bundestag solche Schlachten mit der Regierung ausgefochten, die das EU-Parlament der Kommission und dem Rat immer wieder liefert? Wann wurden zuletzt im Bundestag Entscheidungen gefällt, die manche Bürger, aber auch viele Lobbyisten überrascht hätten? Bundestagsdebatten erscheinen als ein ritualisierter Statementaustausch – kein Wunder, dass sich die vermeintlichen Debatten, in denen die Redebeiträge lediglich auf Papier zu Protokoll gegeben werden, kaum von den realen Debatten im Plenum unterscheiden. Man ist ja schon froh, dass bestimmte Elemente der deutschen Demokratie immer noch zu funktionieren scheinen. Da hat so mancher Beobachter, der überall die Flöhe husten hört, dieses Mal doch tatsächlich einen Elefanten beim Tröten erwischt.

*** Zu den Dingen, die sich einfach nicht ändern, gehören auch die unabänderlichen Tatsachen, dass es "seit ewig" die UPL gibt und man dennoch immer etwas vergisst, wenn es auf Reisen geht. Das Handtuch mag bei der Reise zum kleinen Cafe am Ende des Universums nützlich sein, doch was ist mit USB-freien Gegenden auf der Welt, wo eine Diskette gefragt ist, damit die kleine Wochenschau in der großen norddeutschen Tiefebene aufschlagen kann? Gibt es, ich habe es gerade durchgemacht, wenn dieser Text erscheinen sollte.

*** Dann gibt es aber auch die ewigen Gewissheiten. Etwa die, dass Herzog Atomisier'se erst nach dem Tag erscheint, an dem die Tastatur von meinen kalten, starren Finger gezerrt wird. Nun ist es raus: Das schönste nicht erschienenste Produkt wird nicht erscheinen. Der Balls of Steel Award geht an die Entwickler des Spiels, die von der Schließung ihrer Programmierbude überrascht wurden, wahrscheinlich genauso überrascht wie Darl McBride von der Tatsache, dass SCO liquidiert werden soll. Womit bald eine weitere ewige Gewissheit zu Grabe getragen werden dürfte, stilecht im Koffer, der die Welt bewegte.

*** Inmitten solch trauriger Nachrichten ist es doch tröstlich, wenn man lesen kann, dass das Debuggen vor 60 Jahren bereits mit dem dritten Computerprogramm begann, das in der Frühzeit der EDV geschrieben wurde. So endete der Traum vom fehlerfreien Programmieren bereits vor der ersten Subroutine. Helden wollten sie werden, die Programmierer und Techniker, doch was wurde daraus? Als 1964 der erste Programmierer in der drei Jahre zuvor gestarteten Suchmaschine Was bin ich vorgestellt wurde, wurde er deutschtümelnd als "Futtermeister für Elektronenrechner" bezeichnet. Und von den Ratefüchsen um den Nürnberger Oberstaatsanwalt und Meistersinger, äh Inquisitor Hans Sachs nicht erraten.

*** Der Mann war übrigens der Vorgesetzte von Horst Herold. Der wechselte später zum Bundeskriminalamt und entwickelte aus dem simplen Suchalgorithmus mit fünf Variablen und Schweinderl/No-Schweinderl von Was bin ich die negative Rasterfahndung, die die Rote Armee Fraktion aufspüren sollte und wegen überlasteter Informationskanäle (damals papierne Meldezettel der Streifen) ein grandioser Fehlschlag wurde. Das alles habe ich über einen Zufallspfad aus einem netten Büchlein über Suchmaschinen gelernt, in der ein Mensch aus der von ihm so beschriebenen "niedlichen Gegenwelt Schweiz" das Kunststück fertig bringt, den Datenbank-Theoretiker Edgar Codd und seine Arbeit bei IBM zu erwähnen und die Vorgeschichte von IBM auszublenden. Wer die Suche nach Devianten als Kern von Google begreift und erst mit einem Youtube-Hit beginnt, will halt ein niedlicher Schweizer bleiben. Und die neue Suhrkamp-Kultur verneigt sich devot vor Google.

*** Bleiben wir bei der Behörde, die ein Horst Herold mit dem schönen, von Marx entlehnten Spruch "das maschinelle Sein bestimmt das Bewusstsein" mit Rückenwind der RAF zur heutigen Großpolizei entwickeln konnte. In einer vom Blogger Fefe veröffentlichten Antwort auf die Bitte um Informationsfreigabe (PDF-Datei) zu den Verträgen zwischen BKA und Kinderpornosperrerprovidern ist gleich die öffentliche Sicherheit in Deutschland gefährdet, wenn Details aus den Verträgen bekannt werden. Randalieren dann empörte Kinderpornografiekonsumenten? Auch der Schutz geistigen Eigentums wird bemüht. Wahrscheinlich ist die Sperrliste gemeint, denn das Wissen um die harten Web-Adressen, die tatsächliche Kinderpornografie zeigen, ist leyenhaft gerechnet bekanntlich Gold wert, da ein Millionengeschäft. Oh, ich habe die Jugendpornographie vergessen, die die SPD-Abgeordnete Renate Gradistanac gleich hintendran hängt. Es ist ja zu pervers, wenn Stripperinnen sich mit Zöpfchen präsentieren. Und wie versaut ist eigentlich das Urheberrecht? Genau.

*** Heute am Muttertag vor 40 Jahren war Peter Alexander mit "Mama" Heintje auf dem Titelblatt der Bravo. Es war der Tag, als die Turtles und die Temptations im Weißen Haus spielten, um Tricia Nixon einen Wunsch zu erfüllen. Im Koks-Rausch fiel Professor Mark Volman fünfmal von der Bühne. All das schreibe ich nur, weil eine durchaus ehrenwerte Webmaschine mir erklärt hat, dass heute vor 6 Jahren Steven Tyler von Aerosmith seinen ersten Ehrendoktor in der Sparte Musik erhielt und den Rest nebenbei serviert. Ja, das ist das Wissen der Vielen, die beim guten Journalismus mitmachen wollen.

Was wird.

Die Woche beginnt damit, dass am Montag der Innenausschuss des Deutschen Bundestages über das "Gesetz über das Bundesamt für Speicherung in der Informationstechnik" berät. Nein, das ist kein Schreibfehler, sondern steht als bissiger Vorschlag zur realitätsnahen Umbenennung der Behörde in der Stellungnahme des Dresdener Informatikers Andreas Pfitzmann, die der Bundestag angefordert hat. Pfitzmann bewegt sich auf der Linie der Kritik, die die Gesellschaft für Informatik am BSI-Gesetz geäußert hat und konstruierte folgenden Fall einer Schadens-Attacke: Eine Nachricht kommt, sieht harmlos aus und bleibt ungelöscht. Eine zweite Nachricht kommt, ebenfalls harmlos, nach 5 Jahren, enthält aber den Befehl, die alte Nachricht zu addieren, das Ganze als Binärcode zu interpretieren und auszuführen. Gut, das ist ein hypothetischer Fall mit einem frei gewählten Zeitraum. "Hieraus ergibt sich, dass Maximalfristen für eine Speicherung von 'Bösewichten' immer verlängerbar sind, so dass letztlich nach Gesetzesentwurf alle Nachrichten unbefristet gespeichert werden dürfen." Die Bundesbehörde für Speicherung der Informationstechnik wäre eine ideale Ergänzung für das Bundeskriminalamt, das für die Online-Durchsuchung zuständig sind. Da beide Behörden dem Innenministerium unterstehen, kann das ebenfalls umbenannt werden. Ohne parlamentarische Kontrollkommission, die die Arbeit des BSI überwacht, ohne richterliche Anordnung für den Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, ohne Beschneidung der Weisungen obersten Amtsleitung bei BSI und BKA bekommen wir ein Überwachungsministerium der Extraklasse, das passend Bundesminsterium für Wahrheit (BMfW) heißen könnte. Der Sport wird ausgegliedert und kommt ins Auswärtige Amt: Eine bombige Erfolgsstory soll weitergehen.

Bombig geht es derweil auch in Bochum zu, wo Martin Budich angeklagt ist, zu einer "schweren gefährlichen Körperverletzung" aufgerufen zu haben. Das Verfahren beginnt am Donnerstag. Der älteren Jahrgängen vom Kampf gegen die Volkszählung her bekannte Budich hatte auf der von ihm verantworteten Website zu einer Demo im Rahmen der Aktion "Wir sind Bochum: Nazis sind es nicht" aufgerufen und dabei das Logo veröffentlicht, das in Bochum plakatiert wurde. Es zeigt den vielen Gamern bekannten Bomberman, der auf dem ZX Specki seine bombige Karriere begann und es mittlerweile bis auf die Wii geschafft hat. Seine Genealogie reicht bis zu den Minesweepern. Aus der Bombe ist eine Torte gephotoshopped worden, wie die moderne Was-bin-ich-Suchmaschine zeigt. Der 58-jährige Budich scheint kein Gamer gewesen zu sein, interpretiert er doch das vertraute Bild als wackliges Strichmännchen. Umgekehrt spielt die Staatsanwaltschaft verrückt und macht aus dem Photoshop-Klau ein Klau der Spielidee im "Real Life", den Bombenwurf auf marschierende Nazis. Das Argument des Staates ist schlicht: eine Torten- und Kuchenattacke im Sinne eines Zuckerschleckens für Nazis war nicht gemeint. Der letzte, der dieses Konzept mit Schnuckerchen un Zuckerchen verfolgte, war schließlich der auch in Bochum bekannte Kurt Tucholsky.

Und schießen sie-: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?,
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!,
Wer möchte nicht gern Opfer sein?,
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen...,
Und verspürt ihr auch,
In eurem Bauch,
Den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft-:,
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft-!,

(Hal Faber) / (jk)