Was war. Was wird
Manche Jubilare legen auch noch im hohen Alter einige Fallstricke aus, ĂĽber die auch scheinbar intelligente Menschen stolpern. Aber nach der Postmoderne ist vor der Postmoderne, und nach dem Grundgesetz ist vor der Sicherheit, befĂĽrchtet Hal Faber.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** Das ist ja ein schöner Schlamassel. Hal Faber ist weit weg und trainiert zum bald bevorstehenden Jubiläums-WWWW die Hohe Schule des Surfens, natürlich dort, wo bald die Weltmeisterschaft der Surfer steigt. Wie damals, als eine kleine Projektdatei in Vertretung von Hal das WWWW schmiss, sollte diesmal eine kleine Exceldatei ran. Nicht irgendein Spreizblatt, das das Wachstum von Intershop berechnet oder die Sümmchen, die die Gläubiger von SCO bekommen können, wenn diese Firma liquidiert wird. Nein, die Exceldatei sollte keine geringere als die Exceldatei sein, die das BKA tagtäglich an die Provider verschickt, damit sie ihre belächelte DNS-Sperrtechnik auf dem neuesten Stand halten können. Es wäre doch mal ganz nett, den Blick aus der Perpektive einer Datei zu wagen, die den gesammelten Schmutz und Schund der Internetwelt enthält. Von einer Datei, durch die sich alle ach so zensiert fühlen, während alle die DNS-Sperre für wirkungslos halten.
*** Doch daraus wird nichts. Nach Protesten der Provider ist die kleine Exceldatei in den vorzeitigen Ruhestand geschickt und durch eine XML-Lösung ersetzt worden. Wer jetzt mit dem kleinlichen Einwand kommt, dass ebensogut eine XML-Datei die Wochenschau aus der norddeutschen Tiefebene übernehmen könnte, verkennt den Stand der Dinge. Die XML-Datei, die das BKA nun den Providern vorgelegt hat, ist in ihrer Struktur von der Polizei eines anderen Landes übernommen worden und "geistiges Eigentum des BKA und der Vertragspartner". Das Copyright liegt bei einer befreundeten Polizei, die so internett ist, das Wissen mit den deutschen Kollegen zu teilen. Der Schutz des geistigen Eigentums ist angewandter Kinderschutz ist der praktizierte Auftritt der wehrhaften Gesellschaft von Tyksland. Nix Excel, nix XML und nicht mal Mike Massimo, der als erster Astronaut Twitter nutzt – der Wochenrückblick ist der Wochenrückblick, die Feierei kann warten.
*** Tragen wir lieber unser Schärflein zur Versachlichung der Debatte bei. Nach Auffassung eines Professors vom Hasso-Plattner-Institut, das sich lustige Sachen wie einen Handy-Gärtner für die Welt von morgen ausdenkt, werden "irrationale Ängste" geschürt, dass Websperren Stück für Stück auf weitere Inhalte im Internet ausgedehnt würden. Fragen wir nicht, wie rationale Ängste aussehen, sondern schauen uns lieber irrationale Beispiele an, wie das Bundesinnenministerium Parodien bekämpft, die das Bundesinnenministerium allzugut imitieren. Gleichzeitig freut sich besagter Professor darüber, dass das Internet Rückgrat der modernen Gesellschaft ist und mit IPv6 noch rückgratlicher wird, als "wichtige Voraussetzung für die Internet-Kommunikation mit und zwischen Fahrzeugen sowie in Sensor-Netzwerken mit RFID-Technologie." Fehlen nur noch das Terror-Bit, das KiPo-Bit und natürlich das universale Kampf-Bit 42 gegen das Rot-Geklicke im Heiseforum, Godwins Laugh und die Frage nach dem Sinn des Lebens.
*** Die seltsamen Auffassungen des Professors über strafbare Inhalte im Internet haben den Widerspruch von Juristen angestoßen und die Eltern mit IT-Berufen auf die virtuelle Straße getrieben. So mancher blöde Sack ist dabei leider auch unterwegs. Doch das ist nur der Anfang der Debatte, in der nach der DNS-Blockade die IP-Sperre als nächste Stufe einer effektiveren Internet-Kontrolle ins Spiel kommt. In der Politik ist der Unsinn von eineindeutigen IPs schon angekommen. Wenn die Befürworter von Sperren die härtere Methode wollen, weil die DNS-Technik nicht wirkt, können die Sperr-Gegner aufatmen, die sich über die unwirksame Technik aufregten. Und alle treffen sich vor ihrem böhmischen Dorf zu einem großen Abschlussfest, auf dem die Stimme für Kinder singt, besser bekannt als die Bielefelder Domspatzen. Oder?
*** Eine ähnlich verquere Debatte wie beim "Kampf gegen Kinderpornographie" wird über Open Access geführt, kunstvoll verkleistert mit Googles Versuchen, Buchrechte für biologisch abgebaute Papierschwarten zu sichern. Dabei steht Open Access für ein anders gelagertes Problem: Ein Wissenschafter geht zu einer Zeitschrift, die einem Verlag gehört, reicht dort seine Arbeit ein, die von anderen Wissenschaftern begutachtet wird, die meist ebenfalls durch öffentliche Gelder finanziert werden; die Forschungsarbeit selbst, auf der der wissenschaftliche Artikel beruht, ist auch mit öffentlichen Geldern finanziert, und das Produkt, die Zeitschrift mit diesen wissenschaftlichen Artikeln, wird wieder an die öffentliche Hand – also in der Regel wissenschaftliche Bibliotheken und Forschungsinstitute – verkauft. Wenn die Öffentlichkeit das gesamte System finanziert, sollte der Zugriff frei zugänglich sein, etwa in einer ordentlichen Datenbank bereit gehalten werden. Diese Idee feiert an diesem Wochenende eine Art Geburtstag: Vor 30 Jahren lieferte der Franzose Jean-Francois Lyotard eine Auftragsarbeit ab, die der "Conseil des Universités de Gouvernement du Québec" bestellt hatte. Titel der Arbeit: "Les problèmes du savoir dans les sociétes industrielles les plus développées". Der Bericht erschien pünktlich zum Ende der Sommerferien im September auch als Buch in Paris und geistert seitdem als "Das postmoderne Wissen" durch viele Debatten.
*** Eigentlich wollte die Universitätsverwaltung eine einfache Antwort auf die Frage, wie sich "intelligente Terminals" in Forschung und Lehre auswirken, doch einem echten Philosophen wie Lyotard war das zu trivial, er ging gleich mit der "Krise der großen Erzählungen" aufs Ganze, zumal er die Frage der Universitätsverwaltung schnell und richtig beantortet hatte: Man muss die Arbeit mit den Terminals beherrschen. Zu lehren sind "Nicht die Inhalte, sondern den Gebrauch von Terminals, das heißt einerseits neue Sprachen, und andererseits eine raffiniertere Handhabung jenes Sprachspiels, das die Befragung (von Datenbanken) darstellt: Wohin die Frage richten, das heißt welcher (Daten-) Speicher ist für das, was man wissen will, relevant? Wie sie formulieren, um Fehlgriffe zu vermeiden? usw. /.../ Die Enzyklopädie von morgen, das sind die Datenbanken. Sie übersteigen die Kapazität jeglichen Benutzers. Sie sind die 'Natur' für den postmodernen Menschen." Den mitunter ordentlich verschwurbelten Rest kann, wer will, direkt bei Lyotard lesen. Im Rahmen dieser kleinen Wochenschau geht es nur darum, dass Lyotard deutlich hinweist, was Open Access heute verfolgt: "Die Öffentlichkeit müsste freien Zugang zu den Speichern und Datenbanken erhalten." Übrigens ein Punkt, den der von ihm so kritisierte Deutsche Niklas Luhmann in Bielefeld kaum anders formulierte. In einem kleinen Interviewbüchlein erzählte Luhmann vom Projekte eines Arztes, der eine umfassende Datenbank über Tropenkrankheiten zum allgemeinen Zugriff zu errichten. "Computersysteme thematisch zu zentralisieren, macht überhaupt keinen Sinn."
*** Nicht zu verleugnen ist, dass Lyotard mit seinen Überlegungen über die intelligenten Terminals auch eine Hymne auf die heroische Arbeit der Informatiker und Mathematiker produziert hat, die der Übersetzer als "Einbindung der Informatik in einen neuen Irrationalismus" charakterisierte. Da geht es 30 Jahre später doch erheblich nüchterner zu: "Allen Disziplinen, die eine Verbindung zur 'telematischen' Bildung aufweisen (Informatiker, Kybernetiker, Linguisten, Mathematiker, Logiker, ...), müsste die Priorität in der Lehre zugestanden werden."
Was wird.
Ach ja. 60 Jahre und kein bisschen weise? Der weise Heribert Prantl meint, es sei ein "Liebeskummer-Brief", dieses Grundgesetz, das nunmehr 60 Jahre alt wird. Nicht auftrumpfend, ohne Pathos und ohne Pauken, ohne Trompeten. Es sei nüchtern, fast schüchtern. Ach ja, Liebeskummer könnte man schon kriegen bei diesem Geburtstag und den Gedanken an die Jubilarin. Denn schüchtern, das sind heutzutage diejenigen gar nicht mehr, die die Hüter dieses Grundgesetzes sein sollten, es aber immer weiter aushöhlen. Wenn schon das Polizeifahrzeug mit eingebauter IPv6-Vorfahrt schneller am Tatort ist, muss auch das Grundgesetz endlich der Sicherheit die ihr gebührende Vorfahrt einräumen. Wer redet denn noch von Freiheit und Grundrechten, wenn er Sicherheit haben kann? Dass dieser Sicherheitswahn ein Schicksal ist, das auch Vogelfreunde ereilen kann, macht die Sache nicht besser, selbst wenn sich bei sonst äußerst sicherheitsbewussten Publikationen leise Zweifel einschleichen. Und dass heutzutage ein muslimischer Wissenschaftler und Schriftsteller einen Preis nicht bekommen darf, weil er mit dem Kreuz eigentlich nichts anfangen kann, von tiefreligiöser Kunst überwältigt aber dessen inneren Gehalt zu erkennen vermeint, zeugt auch davon, dass die Grundrechte selbst für intelligent zu haltende Menschen so manche Fallstricke in sich bergen. Ach, sollen sie doch fallen. Wir aber wünschen uns zur Feier des 60. Geburtstags des Grundgesetzes John Zorns "Kristallnacht" und Luigi Nonos "Atmendes Klarsein" als Begleitmusik: "Manche Konzepte und Ideen sind abgestanden; heute ist es unbedingt nötig, die Phantasie so weit wie möglich in den Vordergrund zu stellen." (Hal Faber) / (jk)