Grün gerechnet

Ökobilanzen gelten bestenfalls als ungenau, schlimmstenfalls als Greenwashing. Unser Autor hat sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben.

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Von
  • Wolfgang Richter
Inhaltsverzeichnis

Ökobilanzen gelten bestenfalls als ungenau, schlimmstenfalls als Greenwashing. Unser Autor hat sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben.

Hinter jedem Fenster ein neues Universum. So beschreiben Experten die Krux der Ökobilanzen. Hat man gerade ausgerechnet, wie viel Magnesium mit welchem Energieaufwand für die Herstellung des eigenen Produkts abgebaut wurde, fällt einem ein: Der Bagger für den Abbau musste ja auch erst mal fabriziert werden. Mit Schaufeln aus Stahl, Reifen aus Kautschuk und Strom aus einem bestimmten Energiemix. Und der Kautschuk kommt wieder irgendwo anders her – eine Endloskette. Am Ende steht die je nach Geschmack banale oder philosophische Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt.

"Darum hat in den 90er-Jahren die Erstellung einer Ökobilanz für einen Kotflügel von Daimler auch drei Jahre gedauert", sagt Matthias Finkbeiner, Professor für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. "Heute dauert dieser Vorgang nur ein paar Stunden." Finkbeiner ist Experte für Ökobilanzen, in der Branche wird für sie meist der englische Begriff "Life Cycle Assessment" (LCA) verwendet. Also die ökologische Analyse des gesamten Lebenszyklus eines Produkts, vom Abbau der Rohstoffe über Produktion und Nutzung bis hin zur Entsorgung.

"Natürlich hat man auch schon in den Anfangszeiten mit sogenannten Abbruchkriterien gearbeitet", erzählt Finkbeiner. Der Maschinenpark für Rohstoffgewinnung und Produktion werde tatsächlich meist als gegeben angesetzt und seine Herstellung nicht in die Berechnungen einbezogen. Im Zweifel helfe eine schnelle Sensitivitätsanalyse. Dabei geht der Ökobilanzierer von einem einfachen Worst-Case-Szenario aus: der aufwendigste Stahl für alle Teile der Maschine, deren kürzeste anzunehmende Lebensdauer, Strom nur aus Braunkohle.

Wenn der so nach oben abgeschätzte Gesamtaufwand zur Herstellung einer Lackiermaschine nur so umweltschädigend ist wie eine Woche Autos lackieren, kann man ihn getrost vernachlässigen. In der Summe dürfen die nicht berücksichtigten Posten je nach Produkt "nicht mehr als ein bis maximal fünf Prozent der Gesamtbilanz ausmachen", sagt Matthias Finkbeiner. So erklärt sich denn auch die dreijährige Arbeit an der Kotflügel-Ökobilanz: Viele Einflüsse sind zwar klein – aber eben insgesamt nicht vernachlässigbar. Darunter fallen Transportwege, Verpackungen oder die Vielzahl an eingesetzten Hilfsstoffen.

Dass heute die Erstellung einer Ökobilanz häufig ein Routinejob ist, liegt an speziellen Datenbanken, die den Bilanzierer mit normierten Ökobilanz-Parametern für die einzelnen Einflussfaktoren versorgen. In den Datensammlungen kann man etwa nachschlagen, welche Umweltwirkungen ein halb beladener 40-Tonner auf der Autobahn pro Kilometer verursacht. Allerdings hat diese Automatisierung auch zur Folge, dass es für Außenstehende kaum noch nachzuvollziehen ist, wie die jeweiligen Werte in den Ökobilanzen tatsächlich zustande kommen und wie sich die Stoffströme im Einzelnen zusammensetzen.

Die Firma PE International aus Leinfelden-Echterdingen ist weltweiter Marktführer im Bereitstellen spezieller Informationen für Ökobilanzen. Ihre Datenbank Gabi – für "Ganzheitliche Bilanzierung" – entstand im Rahmen des Kotflügel-Projekts von Daimler und enthält mittlerweile über 7000 Ökobilanz-Profile von Produkten oder Dienstleistungen, die jährlich überprüft und aktualisiert werden.

Doch die Firma stellt nicht nur diese Datenbank zur Verfügung, sondern erarbeitet auch selber Ökobilanzen. "Wichtig ist dabei vor allem, sich vor Ort den Produktionsprozess genau anzuschauen", sagt Johannes Kreißig, der bei PE International für die Baubranche zuständig ist. "Erst dann kann man auch die richtigen Fragen stellen." Zusammengestellt werden müssen alle Energie-, Rohstoff- und Warenströme, die in die Fabrik hineingehen, und alle Produkte, Emissionen und Abfälle, die hinausgehen. "Viel kann man schon den Rechnungen aus der Buchhaltung entnehmen", sagt Kreißig. Im Zweifel wird der Energieverbrauch einzelner Produktionslinien an den Maschinen nachgemessen, Daten über Emissionen finden sich meist in TÜV-Berichten, die bei der Zulassung von Anlagenteilen ausgestellt wurden.

"Eine Bilanzierungssoftware erstellt dann eine große Matrix mit den Stoff- und Energieflüssen und ihren jeweiligen Umweltauswirkungen", erzählt Kreißig. Das Formaldehydharz etwa, das zum Verfestigen des Dämmstoffs Mineralwolle genutzt wird, trage bei der Produktion zur Versauerung von Böden bei. Gemessen werden diese Wirkungen in Äquivalenten: Das CO2-Äquivalent als "Treibhausgas-Einheit" ist vielen mittlerweile bekannt, genauso gibt es zum Beispiel ein SO2-Äquivalent für die Versauerung. "Findet man einen Stoff, etwa das verwendete Harz, nicht in der Gabi-Datenbank, nimmt man erst mal ein möglichst ähnliches Produkt, das dort gelistet ist", sagt Kreißig. Dann könne man eine Sensitivitätsanalyse durchführen: Ist der Anteil des Harzes an der gesamten Versauerung nicht unerheblich, muss man die genauen Werte für das tatsächlich verwendete Produkt beim Hersteller recherchieren.

Zum Schluss der Ökobilanz werden die Nutzungsphase des Produkts und das Recycling betrachtet. "Beim Auto entstehen hier die meisten Emissionen, bei einer Wärmedämmung wie der Mineralwolle ist es genau umgekehrt", erklärt Johannes Kreißig. Die jüngsten Meldungen über eine angeblich schlechte Ökobilanz von Dämmstoffen kann er deshalb nicht nachvollziehen. Bei den meisten Wärmedämmsystemen werde der Energieeinsatz für ihre Produktion schon nach wenigen Monaten an einer Hauswand wieder eingespielt. Zudem fielen nur geringe Mengen zur Wiederverwertung an, weil die Lebensdauer praktisch der des gesamten Hauses entspreche.

Dem verbreiteten Vorurteil, dass solche positiven Aussagen immer mit Vorsicht zu genießen seien, wenn sie von den Herstellern selbst kommen, will Matthias Finkbeiner entgegentreten. "Viele Menschen denken, dass Ökobilanzen nur Propagandazwecken dienen sollen." Dabei hätten die Hersteller durchaus ein Interesse an der Wahrheit: Sie nutzten Lebenszyklusanalysen meist, um mögliche imageschädigende Umweltwirkungen im Voraus erkennen und beheben zu können. Zudem müsse jede Ökobilanz mittlerweile mehrere Iso-Normen erfüllen, die nicht nur genau festlegen, nach welchem Muster eine Lebenszyklusanalyse abzulaufen hat, sondern auch, dass sie am Ende von drei unabhängigen Prüfern gegengecheckt wird. Dabei kann es sich um Wissenschaftler an Universitäten, oder Experten von Institutionen wie der Dekra oder dem TÜV handeln.