SĂĽndenbock und Fluchthilfe
Gibt es so etwas wie Internetsucht? Wenn ja, dann wäre sie leichter zu bekämpfen als andere Abhängigkeiten. Denn das Internet bietet aufgrund seiner technischen Struktur im Gegensatz zu anderen „Drogen“ Kontrollmöglichkeiten.
- Gordon Bolduan
In realen Leben ist Stefan M. das Opfer, der Elfenkrieger ist er in der Fantasiewelt des Online-Spiels World of Warcraft WOW. Bis zu 16 Stunden und mehr hat der 34-jährige Akademiker dort verbracht, bevor er sich in Therapie begab. Im November 2006 fand er sich deswegen im Konferenzraum der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) wieder – als Vorzeige-Proband einer Studie über exzessiven Internet-Konsum. Bert te Wildt hatte sie durchgeführt und stellte die Ergebnisse medienwirksam vor: „Ich habe in diesem Raum noch nie so viele Journalisten gesehen“, erklärte der MHH-Pressesprecher begeistert. Ob auch Stefan M. die Situation so genossen hat, da war ich mir nicht so sicher: Er saß neben mir, verschränkte die Hände, drückte die Daumen gegeneinander. Sein Gesicht war gerötet, die Augen weit aufgerissen.
Nur einen Tag zuvor war Sebastian B. im westfälischen Emsdetten Amok gelaufen. Die Fotografen von Bild & Co. streiten sich nun um die Plätze, wir Redakteure notieren uns eifrig Stefans Aussagen: „Den Computer habe ich morgens vor der Kaffeemaschine angemacht“. Stefan M. ist das Opfer, und die Internetsucht in Sekundenschnelle ein weiterer Schlachtgrund von Killerspielen. Nachschlag! Die Absurdität dieser Szene gipfelte in der Frage: „Wo gibt es denn dieses World of Warcraft?“
Auch in diesen Tagen rauscht der Begriff „Internetsucht“ – diesmal in einer Associated Press Meldung – durch den Blätterwald diverser Online- und Tageszeitungen. „Sie sehen aus wie wandelnde Leichen“, lässt sich Andreas Koch von der Berliner Caritas zitieren. Der Psychologe leitet das „Cafe Beispiellos“, in dem sich Internetabhängige zum wöchentlichen Gespräch treffen. Koch gehört zu der Gruppe, die diese Abhängigkeit als Sucht anerkannt sehen möchte. Der Vorteil: Konkrete Hilfssysteme sind implementiert, die Krankenkassen wären verpflichtet, notwendige Therapien zu bezahlen.
Te Wildt interpretiert seine Ergebnisse anders: „Anders als bei stoffgebundenen Suchterkrankungen wie Alkohol-, Medikamenten- oder Drogensucht sprechen unsere Daten dafür, dass sich hinter pathologischer Internetnutzung bekannte psychische Störungen verbergen, die mit der Übersetzung in die virtuelle Welt einen Symptomwandel erfahren“. Bei 80 Prozent seiner 23 internetabhängigen Probanden konnte er eine Depression diagnostizieren, die sie schon vor ihren Interneteskapaden hatten. Eine Studie mit gleicher Aussage hatte die Psychologin Silvia Kratzer von der Universität Augsburg bereits Anfang September des vergangenen Jahres publiziert. Dieser akademische Diskurs findet unter dem Oberbegriff des pathologischen Internetgebrauchs statt.
Als Kenngrößen hiefür gilt jedoch nicht nur die im Netz verbrachte Zeit, sondern unter anderem auch das häufige Verlangen, sich einzuloggen und die verminderte Kontrollfähigkeit über die Zeit online, des Weiteren die Bagatellisierung immer längerer Sitzungen vor dem Computer, das Vernachlässigen des eigenen sozialen Umfeldes und mehrere Fehlversuche, den Konsum einzuschränken. Greifen mehr als drei dieser Kriterien über einen Zeitraum sprechen die Forscher von pathologischem Internetgebrauch.
Der Volksmund ist weniger kritisch im Umgang und definiert eine Vielzahl von Bindestrich-Süchten: Tamagotchi-, Pokemon-, Gameboy-, Handy-, oder Chatsucht existieren, da herrscht kein Zweifel. Auch die Sängerin Nena bekennt offen: „Ich war selber einmal fernsehsüchtig.“ In einem nicht so ganz ernst gemeinten Artikel definiert das Magazin NewScientiest sogar Junkies 2.0:Wkipediholic, Cyber-Hypochonder, Blog-Blabberer und Youtube-Narziss.
Macht jetzt Technik doch süchtig? Abgesehen von der generellen Skepsis gegenüber neuen Medienformaten – als solche standen auch schon Romane und Comics auf der Liste der verbotenen Konsum-Substanzen – ist diese Inflation des Suchtbegriffes leicht erklärbar: Jeder Konsum, der zur Gewohnheit geworden ist, kann zur „Sucht“ ausarten. Noch ein paar weitere gefällig? Wie wäre es mit Schokoladen-Sucht? Wie, Sie auch?
Das Internet ist besonders suspekt, da es verschiedene Medienformate und Kommunikationskanäle anbietet. Der Psychologe Mark Griffiths hatte 1995 diese Tatsache mit der Umschreibung von „technischer Sucht“ „nicht-chemischer Verhaltenweisen, die Mensch-Maschine-Interaktion einschließen“ zu fassen versucht und es plakativ „technological addiction“ genannt. Inzwischen bezeichnet er auf Anfrage diesen Begriff als nicht mehr haltbar. Auch an der Studie von te Wildt fällt auf, dass nur vier Prozent extensiv surften, dagegen aber 30 Prozent übermäßig im Chat plauderten und rund 60 Prozent online spielten, wovon sich rund 53 Prozent in virtuellen Rollenspielen und nur 33 Prozent in Ego-Shootern verloren. Zusätzlich ist der Trend erkennbar, dass die Prozentzahlen der als Süchtig angesehenen Anwender fallen: Kimberly Young hatte 1995 einer Online-Stichprobe noch rund 20 Prozent festgestellt, inzwischen spricht man von drei bis sieben Prozent.
Was bei aller Diskussion über Zahlen, Ursachen und Begriffe vergessen wird, ist, dass das Internet aufgrund seiner technischen Struktur im Gegensatz zu allen anderen „Dealern“ bereits Kontrollmöglichkeiten bietet. Diese externe Kontrolle ist zwar aus psychologischer Perspektive nicht so hochwertig wie die eigene Erkenntnis, dennoch kann sie ein erster Schritt sein, die Zahl der Stunden im Chat oder in der Online-Welt in den Griff zu bekommen. China zeigt da keine Skrupel: Online-Spieler müssen ihre Identität preisgeben und nach einer bestimmten Zeit damit rechnen, dass ihr Charakter an Kraft verliert. Damit solche Bemühungen nicht in unter den Verdacht des Datenausspähens fallen, darf jedoch keine Beziehung zwischen virtueller und realer Identität herstellbar sein. Letztere ist auch nicht notwendig, denn es geht darum, das Leben im Virtuellen einzuschränken. Wer jetzt schreit, dass ohne Auflösung der Pseudonyme die Anwender in neue Identitäten schlüpfen könnten, verkennt, dass das virtuelle Alter ego dafür zu kostbar ist: Egal ob im Chat oder Online-Spiel, die Online-Identität wurde mühsam erschaffen und genießt eine kostbare Reputation im fragilen Beziehungsgeflecht der Online-Welt. Und gerade diese Beziehungen geben vielen den besonderen Kick. (wst)