Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

Ohne die Öffentlichkeit darüber zu informieren, hat das gemeinschaftlich erstellte Online-Lexikon Wikipedia damit begonnen, die allgemein akzeptierte Bedeutung

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Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Simson Garfinkel
Inhaltsverzeichnis

Warum ist Wikipedia mächtig? Zum Beispiel, weil die Artikel der gemeinschaftlich erstellten Online-Enzyklopädie inzwischen bei vielen Begriffen auf Platz eins oder zwei in den Ergebnislisten von Google und Co. auftauchen. Tippt man das Wort "Eisen" bei dem Suchmaschinen-Riesen ein, erhält man den Wikipedia-Artikel über das Element als Top-Ergebnis. Der Grund: Googles Algorithmen ordnen die Suchergebnisse zum Teil stark danach an, wie oft sie verlinkt wurden – und das Netz verlinkt äußert gerne auf Wikipedia-Artikel.

Das bedeutet auch, dass die Inhalte dieser Artikel wirklich bedeutsam sind. Die Standards, die Wikipedia für eine Aufnahme in das Online-Lexikon kennt – also was drin steht und was nicht – beeinflussen längst die Arbeit von Journalisten, die regelmäßig Wikipedia-Artikel lesen und die darin enthaltenen "Wikiclaims" gerne als Hintergrundinformationen wiederholen, ohne sie als Zitat zu kennzeichnen. Die Wikipedia-Standards beeinflussen Schüler und Studenten, deren Recherche bei vielen Themen mit Wikipedia beginnt – und oft auch endet. Und weil ich selbst Wikipedia verwendet habe, um große Teile dieses Artikels zu recherchieren, betreffen diese Standards auch Sie, liebe Leser, und zwar genau jetzt.

Viele Menschen, besonders Experten in Forschung und Lehre, argumentieren, dass Wikipedia-Artikeln nicht vertraut werden könne, weil sie von Freiwilligen geschrieben und redigiert würden, deren Motive man nicht kenne. Nichtsdestotrotz haben Studien herausgefunden, dass viele der Texte erstaunlich akkurat sind. Der Grund dafür liegt darin, dass die Wikipedia-Gemeinschaft aus mehr als sieben Millionen registrierten Nutzern Regeln und Prozesse entwickelt hat, wie Unwahrheiten aus dem Online-Lexikon entfernt werden können. Das erklärt auch das explosive Wachstum: Wenn die Dinge, die in der Wikipedia stehen, den meisten Lesern nicht als "wahr genug" vorkommen würden, sie kämen sicherlich nicht mehr so häufig.

Die Wikipedia-Regeln wurden zu einer Art Gesellschaftsvertrag jener schlaflosen Armee an Freiwilligen, die das Online-Lexikon bestückt. Dank diesen Gesetzen verschwinden inkorrekte Informationen normalerweise ziemlich schnell. Aber wie entscheiden die Wikipedianer, was wahr ist und was nicht? Auf was basiert ihre Erkenntnistheorie?

Im Gegensatz zu den Gesetzen der Mathematik oder der Wissenschaft basiert die "Wikitruth" nicht auf Prinzipien wie Konsistenz oder Beobachtbarkeit. Sie basiert nicht einmal auf Regeln des gesunden Menschenverstandes oder Erfahrungen aus erster Hand. Wikipedia hat radikal eigene erkenntnistheoretische Standards entwickelt, Standards, die nicht besonders überraschend sind, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie sich aus einer Web-basierten Gemeinschaft heraus entwickelt haben, die aus vielen anonymen Mitgliedern besteht. Diejenigen, die sich für die traditionellen Einschätzungen von Wahrheit und Genauigkeit interessieren, dürften sie zum Teil schockieren.

In der Wikipedia sind objektive Wahrheiten nämlich nicht einmal ein sonderlich großes Thema. Was ein Faktum oder eine Aussage für Wikipedia aufnahmewürdig macht, ist die Tatsache, dass sie in einer anderen Publikation aufgetaucht sind – idealerweise einer auf Englisch, die kostenlos online verfügbar ist. "Der Grenzwert für die Aufnahme einer Information in Wikipedia ist nicht die Wahrheit, sondern die Nachprüfbarkeit", heißt es in den offiziellen Regeln dazu glasklar.

Nachprüfbarkeit ist eine von drei Kernregeln der Wikipedia – sie wurde bereits im August 2003 festgezurrt. Die zwei anderen sind "keine Forschungsbeiträge" (Dezember 2003) und "neutraler Standpunkt" ("neutral point of view" – NPOV, Dezember 2001), letztere ererbt vom Wikipedia-Vorläuferprojekt Nupedia, einem kostenlosen Freiwilligen-Lexikon, das von März 2000 bis September 2003 existierte. Diese Regeln machen Wikipedia zu einem Ort, an dem beide Seiten eines politisch aufgeladenen Themas vernünftig ihre Positionen diskutieren, eine gemeinsame Position finden und unaufgeregt ihre unterschiedliche Haltung dokumentieren können. Wikipedia ist erfolgreich, weil diese Regeln funktionieren.