Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

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Was das bedeutet, lässt sich nur schwer festnageln. Ich selbst sorge mich eher selten um die Verlässlichkeit der Wikipedia. (Die Textqualität ist ein anderes Thema.) Als Computerwissenschaftler nutze ich das Online-Lexikon nahezu täglich. Seine Informationen zu Algorithmen, Architekturen, Mikroprozessoren und anderen technischen Themen sind normalerweise exzellent. Wenn sie nicht exzellent sind und ich weiß es besser, verändere ich sie. Und wenn Artikel falsch sind und ich es nicht besser weiß – nun ja, da kann ich auch nicht helfen.

Ich habe mich außerdem ziemlich lange damit beschäftigt, solche Artikel wie "Das Singularitätsskalpel", "Der Vertrag von Algeron" oder "Nummer sechs" zu untersuchen. Sucht man nach diesen Begriffen, wird man auf Wikipedia-Artikel mit Überschriften wir "Liste von Gegenständen in der Serie Torchwood", "Liste der Verträge in Star Trek" und "Cylon-Roboter, der von der kanadischen Schauspielerin Tricia Helfer gespielt wird" weitergeleitet. Diese Artikel verdanken ihre Wikiexistenz allesamt akademisch genauen Beschreibungen von Original-Episoden von "Dr. Who", "Torchwood", "Star Trek" und "Battlestar Galactica", populären Fernsehsendungen.

Mir macht es Spaß, diese Beiträge als Nadeln zu benutzen, mit denen ich Wikipedia pieksen kann, doch stellen sie nur einen kleinen Anteil der Wikipedia-Inhalte dar. Andererseits waren sie von Anfang an ein wichtiger Teil der Wikipedia-Kultur. Sanger meint, dass das Online-Lexikon schon früh auf eine große Artikelbreite setzte: "Es gibt viel Plattenplatz und wenn es Leute da draußen gibt, die vernünftige Artikel zu einem Thema schreiben können – warum nicht?" Er habe es recht lustig und cool gefunden, dass Leute Beiträge über jede Figur aus "Der Herr der Ringe" schrieben. "Ich hielt das nicht für ein Problem, wie das heute einige Leute meinen."

Problematisch an Artikeln über Fantasiewelten ist allerdings, dass sie der Wikipedia-Regel "keine Forschungsbeiträge" widersprechen, weil die meisten von ihnen ihr Referenzmaterial aus den Fantasiewelten selbst beziehen und nicht etwa von angeblich verlässlichen Zweitquellen. Ich markiere diese Artikel nur deshalb nicht für eine Schnelllöschung nach Wikipedia-Art, weil das Online-Lexikon selbst eine Ausnahme für fiktionale Werke macht und weil, ich gebe es offen zu, ich sie sehr gerne lese. In diesen Tagen sind nahezu alle dieser Artikel außerdem mit einem Label versehen, das besagt, dass sie sich mit einem Fantasieuniversum beschäftigen.

Was, um zum Ausgangspunkt zurückzukommen, ist also Wahrheit? Laut dem Wikipedia-Eintrag zum Thema hat der Begriff "keine einzelne Definition, der eine Mehrheit professioneller Philosophen und Gelehrter zustimmen" würden. In der Praxis haben sich aber die Wikipedia-Grundregeln als faktischer Standard für Wahrheit im Internet etabliert, und weil das Online-Lexikon die am meisten gelesene Online-Referenz des Planeten ist, hat das auch Auswirkungen auf das reale Leben. Bei Wikipedia ist Wahrheit eine empfangene Wahrheit: Die Konsensbetrachtung eines Themas.

Die dafür notwendigen Standards sind einfach: Etwas ist wahr, wenn es in einem Zeitungsartikel, einem Magazin, einer wissenschaftlichen Zeitschrift oder einem Buch aus der Universitätspresse publiziert wurde – oder bei "Dr. Who" vorkam.

Simson L. Garfinkel ist Technology Review-Autor und Professor für Computerwissenschaften an der Naval Postgraduate School im kalifornischen Monterey. (bsc)