Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

Seite 3: Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

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"Ich habe mehrfach versucht, im alternativen Universum, das Wikipedia darstellt, als Filmregisseur in Rente zu gehen. Doch jedes Mal hat mich jemand überstimmt", schrieb Lanier. Jedes Mal, wenn sein Wikipedia-Eintrag korrigiert worden sei, kam einen Tag später wieder jemand an, der den Regisseurtitel einfügte.

Da Laniers Versuche, seinen eigenen Wikipedia-Eintrag zu editieren, auf dem eigenen Wissen zur eigenen Karriere basierte, brach er direkt drei Kernregeln des Online-Lexikons: Er hatte keinen neutralen Standpunkt, er schrieb einen "eigenen Forschungsbeitrag" und was er da schrieb, ließ sich nicht einmal durch einen Link auf eine legitime, mit Autorität versehene und nachprüfbare Publikation beweisen.

Der Wikipedia-Standard für "Wahrheit" ist technisch und rechtlich gesehen sinnvoll, wenn man bedenkt, dass jeder die Artikel editieren kann. Es gab keine Möglichkeit für Wikipedia als Gemeinschaft, festzustellen, dass die Person, die den Artikel über Jaron Lanier veränderte, Jaron Lanier oder ein Vandale war. Es ist nach Wikilogik deshalb sicherer, die Menschen nicht beim Wort zu nehmen und stattdessen auf die Autorität anderer Publikationen zu setzen – und das auch von jedem, der beiträgt, zu erwarten, egal ob er ein "Experte" ist oder nicht.

Es geschieht etwas Interessantes, wenn man versucht, Wikipedia zu verstehen: Je tiefer man eindringt, desto verzweigter wird es. Gehen wir noch einmal zurück zum Nachprüfbarkeitskriterium. Wikipedia hält "wissenschaftliche Zeitschriften, die auf Peer-Review setzen sowie Bücher aus der Universitätspresse" für die verlässlichsten Quellen, gefolgt von "Lehrbüchern auf Universitätsniveau", dann wissenschaftliche Zeitschriften ohne Peer-Review, "Bücher aus renommierten Verlagshäusen" und schließlich "Mainstream-Medien" wie Zeitungen, wobei damit nicht deren Meinungsseiten gemeint sind.

Auch das ist sinnvoll, wenn man bedenkt, dass Wikipedia die wirkliche Identität ihrer Autoren nicht nachprüfen kann. Laniers Klage, dass seine Wikipedia-Seite behauptete, er sei ein Filmregisseur, konnte also nicht ernst genommen werden. Das änderte sich erst, als Lanier die Redakteure von Edge.org dazu bewegt hatte, seine Behauptung, er sei kein Filmregisseur, auch zu drucken. Dieser einzige Artikel reichte aus, um die Wikipedianer davon zu überzeugen, dass der Wikipedia-Artikel zu Lanier falsch war – schließlich gab es dazu nun einen klickbaren Link! Die Edge.org-Redakteure hatten vermutlich ihre Fakten überprüft, weshalb die Wikiwelt nun korrigiert werden konnte.

Doch das Schicksal war damit noch nicht zufrieden. Lanier wurde anschließend dafür kritisiert, dass er sich der Wikisünde des Editierens seines eigenen Wikieintrags schuldig gemacht hatte. (Die gleiche Kritik erhielt ich übrigens selbst, als ich eine Anzahl augenscheinlicher Fehler in meinem eigenen Artikel nachbesserte.)

"Kritik" ist ein eher mildes Wort für diese Art der Wikijustiz, die denjenigen blüht, die dumm genug sind, beim Redigieren ihres eigenen Wikipedia-Artikels erwischt zu werden: Die Einträge bekommen dann einen dicken Banner, in dem steht, dass ein wichtiger Beitragender zu diesem Artikel "einen Interessenskonflikt zu diesem Thema" haben könnte. Der Banner enthält ein kleines Bild einer Wage, wie man sie von Justitia kennt – sie bewegt sich nach links. Nicht, dass man nicht gewarnt würde: Die Regeln, die Wikipedia in Sachen "Autobiografie" aufgestellt hat, erklären detailliert, dass die Nutzung des eigenen Wissens, um den eigenen Wikipedia-Eintrag zu verändern, alle drei Kernregeln des Online-Lexikons verletzt – und illustriert wird dieser Punkt einem Zitat aus "Per Anhalter durch die Galaxis".

Doch es gibt ein Problem mit der Maßgabe, sich an der Autorität des geschriebenen Wortes anderer Leute zu orientieren: Viele Publikationen setzen selbst nicht mehr auf intensives Fact Checking und viele, die es doch tun, rufen einfach nur denjenigen an, der in einem Artikel vorkommt, um zu überprüfen, ob der Reporter alle Informationen richtig hatte. Beispielsweise erhält der Wirtschaftsdienst "Dun & Bradstreet" seine Informationen über Mittelständler und kleine Unternehmen, in dem er genau diese bittet, einen Fragebogen über sich selbst auszufüllen. D&B ist für Wikipedia eine akzeptable Quelle.