Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

Seite 2: Wikipedia und die Bedeutung der Wahrheit

Inhaltsverzeichnis

Im Gegensatz zu den Artikeln auf Wikipedia wurde Nupedia von Experten geschrieben und redigiert. Doch wenige ließen sich dazu motivieren, teilzunehmen. Nun gut: Einige wollten über ihre eigenen Forschungsergebnisse schreiben, doch Larry Sanger, der Chefredakteur, beendete die Praxis sofort: "Wenn etwas nicht von den relevanten Experten durchgesehen wurde, werden wir zu einer Originalquelle von Informationen. Darauf waren wir einfach nicht eingerichtet", sagte er seinen Mitstreitern. (Ironischerweise – oder auch nicht – ist Sanger übrigens ein ehemaliger Philosophiedozent und ausgebildeter Erkenntnistheoretiker.)

Mit der Tatsache, dass Experten nicht über ihre eigene Arbeit schreiben durften und es ihnen dadurch an Motivation fehlte, über andere Dinge zu schreiben, hatte Nupedia schwer zu kämpfen. Sanger und Jimmy Wales, Gründer der Nupedia, entschieden sich also, andere Regeln auf einer neuen Website aufzustellen, die sie dann am 15. Januar 2001 freischalteten. Sie adaptierten die neu erfundene "Wiki"-Technologie, die es möglich machte, dass jeder zu einem Artikel beitragen oder neue erstellen konnte – einfach, in dem er auf "Seite bearbeiten" klickte.

Es dauerte nicht lange, bis die Fans merkwürdiger Hypothesen oder verrückter Ideen die Wikipedia bevölkerten und dafür sorgten, dass die Freiwilligen des neuen Angebots große Teile ihrer Zeit mit der Reparatur von Schäden verbrachten. (Eine Studie, die kürzlich im Journal "Communications of the Association for Computing Machinery" veröffentlicht wurde, fand heraus, dass 11 Prozent aller Wikipedia-Artikel mindestens einmal "vandalized", also mit unsinnigen Informationen gefüttert wurde.) Doch wie konnten die Wikipedia-Freiwilligen feststellen, ob etwas wahr ist? Die Lösung war, Referenzen und Fußnoten zu den Artikeln zu ergänzen – und zwar "nicht deshalb, um dem Leser zu helfen, sondern um die anderen Wikipedia-Teilnehmer zu befriedigen", sagt Sanger, der Wikipedia verließ, bevor die Nachprüfbarkeitsregeln formal beschlossen wurden. (Sanger und Wales, letzterer inzwischen emeritierter Chairman der Wikimedia Foundation, bekamen sich darüber in die Wolle, wie wichtig Sangers Rolle bei der Schaffung der Wikipedia war. Heute ist Sanger der Gründer und Chefredakteur von Citizendium, einer Wikipedia-Alternative, die deren Fehler in Sachen "Verlässlichkeit und Qualität" ausbügeln will.)

Nachprüfbarkeit ist in Wirklichkeit ein Nachweis der Autorität einer Information, nicht in Form der Autorität einer Wahrheit, sondern der Autorität einer anderen Publikation. Damit ist eigentlich fast jede professionelle Veröffentlichung gemeint. Heutzutage erhalten Informationen, die ohne passende Referenz in Wikipedia landen, sofort einen "Citation needed"-Sticker (Zitat notwendig) von einem der freiwilligen Wikipedia-Redakteure. Nimmt man ihn weg, kommt garantiert jemand und setzt ihn zurück. Gibt man dann noch immer nicht auf, kommt es mit Sicherheit zum Showdown mit einem der 1500 Administratoren, die in der englischsprachigen Wikipedia unterwegs sind und die Fähigkeit besitzen, zunehmend restriktive Beschränkungen auf besonders umstrittene Seiten zu legen, wenn die Wikipedia-Regeln ignoriert werden.

Um fair zu bleiben: Wikipedias Nachprüfbarkeitsregeln sagen auch aus, dass Artikel auf "verlässlichen veröffentlichten Quellen Dritter" basieren sollen, die selbst wiederum den NPOV-Standard der Wikipedia beachten. Selbstpublizierte Artikel sollten vermieden werden, nichtenglische Quellen in der englischsprachigen Wikipedia ebenfalls (wenn es keine anderen gibt), weil die meisten Leute, die en.wikipedia.org lesen, schreiben oder redigieren, nur diese Sprache sprechen.

Im Mai 2006 schrieb der Zukunftsforscher Jaron Lanier in einem Essay auf der Technologie- und Kultur-Website Edge.org, Wikipedia sei ein Beispiel für "digitalen Maoismus" – die bislang stärkste Annäherung der Menschheit an etwas, das einer funktionierenden "Herrschaft des Mobs" gleichkomme.

Lanier wollte vor allem deshalb über Wikipedia schreiben, weil jemand ständig seinen Wikipedia-Eintrag veränderte und schrieb, er sei ein Filmregisseur. Lanier beschreibt sich selbst als "Computerwissenschaftler, Komponist, bildender Künstler und Autor". Er ist in all diesen Dingen ziemlich gut, ein Regisseur ist er aber nach eigenen Angaben nicht. Laut seinem Essay machte er in den Neunzigerjahren nur einen einzigen experimentellen Kurzfilm, der "schrecklich" gewesen sei.