Das ferne Dröhnen der Motoren

Im Krankenhaus neben dem Highway hört Lenny von seinem Bettnachbarn Nacht für Nacht Botschaften unerhörter Tragweite. Wird er sie verstehen? Eine Kurzgeschichte.

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Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Algis Budrys
Inhaltsverzeichnis

Lesefutter für stille Tage: Zur Weihnachtspause präsentieren wir Ihnen ausnahmsweise mal reine Fiktion: Zwei Science Fiction-Kurzgeschichten vom Feinsten. Nach den Feiertagen versorgen wir Sie dann wieder mit Nachrichten, Hintergründen und Analysen. "Das ferne Dröhnen der Motoren" ist ein Text des Science Fiction-Autors Algis Budrys, der 2008 nach einer langen und erfüllten Karriere gestorben ist. Die Story ist erstmals 1959 in der März-Ausgabe des "Magazine of Fantasy and Science Fiction" erschienen.

"Len? Lenny?" Der merkwürdige Mann im Bett neben mir versuchte, mich zu wecken.

Ich lag im Dunkeln, meine Hände hinter meinem Kopf verschränkt, und hörte dem Lärm der Straße zu, der am Krankenhaus vorbeizog. Selbst mitten in der Nacht – und es war spät als der Mann neben mir sich wieder traute, mit mir zu sprechen – war der Verkehr ziemlich stark, weil der Highway mitten durch die Stadt führte. Für mich war das ein Glück, denn der Fahrer des Krankenwagens hatte es nicht geschafft, das Bluten meiner Beine am Unfallort zu stoppen. Noch eine halbe Meile, noch weitere zwei Minuten und mein Körper wäre wohl so ausgetrocknet gewesen wie die ablegte Haut einer Wüstenschlange.

Doch jetzt ging es mir wieder gut, jedenfalls im oberen Bereich meines Körpers. Der LKW hatte wie ein Klappmesser meine Beine unter das Armaturenbrett geschoben und sie mir weggenommen. Doch immerhin lebte ich und konnte nun das Geräusch der Trucks die ganze Nacht über hören. Die Zugmaschinen mit Überlänge, die Sattelschlepper, die Tandem-LKWs, die Kühlwagen. Alle kamen sie die Küste von Charleston oder Norfolk herauf und fuhren nach New York. Oder sie fuhren sie wieder von Boston oder Providence herunter. Männer, die ich kannte, saßen in ihnen. Jack Biggs, Sam Lasovic. Oder Tiny Morrs, der mit dem Ringfinger der ersten Hand, an dem ein Glied fehlte. Tiny, den hatte ich jetzt wohl übertroffen.

Im Büro des Dispatchers wartet ein Job auf Dich, Lenny, sagte ich mir, nur keine Angst. Kein schlechter Kaffee mehr, keine kalten Nächte, keine Augen mehr wie Sandpapier. Du warst für die Straße sowieso ein bisschen alt. 38 Jahre. Ja.

"Lenny..."

Das Beste, was der Mann im Bett neben mir noch hervorbrachte, war ein Wispern. Ich fragte mich, ob er nicht einfach Angst hatte. Er hatte Angst, tagsüber etwas zu sagen, weil dann die Schwestern sofort vorbeikamen und ihm einfach eine neue Nadel in den Körper steckten – jedes Mal, bei jedem Geräusch. Sie injizierten ein Mittel in einen dünnen Bereich seiner Bandagen und gingen dann schnell wieder weg. Manchmal trafen sie nicht richtig und manchmal ging nur ein Teil der Morphiums unter die Haut des Mannes, so dass nur sein Arm gefühllos wurde. Der Mann prahlte dann später, wie ihm das wieder gelungen sei. Er versuchte, möglichst viele der Injektion daneben gehen zu lassen, in dem er seinen Arm bewegte. Manchmal bemerkten die Schwestern es, meistens aber nicht.

Er wollte die Nadel einfach nicht. Der Schmerz ging dadurch zwar weg, doch ohne den Schmerz und mit all den Bandagen über seinem Gesicht gab es dann keinen Beweis mehr dafür, dass er noch lebte. Er war ein dickköpfiger, schlauer Mann, der versuchte, sich zu wehren, weil er merkte, wie abhängig er von dem Stoff wurde. Nicht abhängig wie du und ich, abhängig aus einer ganz anderen Perspektive.

"Lenny..."

"Hmmja?", sagte ich, die Stimme wie in Watte gepackt. Ich ließ ihn immer etwas warten. Ich wollte nicht, dass er wusste, dass ich die ganze Nacht wach blieb.

"Bist Du wach?"

"Jetzt ja."

"Tut mir leid, Len."

"Geht schon in Ordnung", sagte ich schnell, weil ich nicht wollte, dass er sich mir gegenüber schuldig fühlte, "ist gut, ich bekomme tagsüber genügend Schlaf".

"Len, die Formel, um schneller als das Licht reisen zu können, ist..." Und dann begann er damit, mir all diese Zahlen und Buchstaben herunterzurattern.

Letzte Nacht war es die exakte Zusammensetzung der Metalle in einer hochtemperaturresistenten Legierung gewesen, inklusive der notwendigen Schmelz- und Gießtechniken und dem Härtungsprozess. Die Nacht davor war es eine Rumpfspezifikation.

"Hast Du alles, Lenny?"

"Natürlich."

"Lies es mir noch mal vor."

Ich habe einmal drei Jahre lang in einem Diner gearbeitet. Ich konnte mich stets an alles erinnern, was man mir gesagt hatte, es sofort wieder nacherzählen; es war egal, wie kompliziert die Bestellung war. Das ist ein Trick: Man räumt seinen Geist blitzblank, öffnet die Ohren und schon kommt alles herein. "Zweimal gegrillter Käse zum Mitnehmen, Speck und Tomaten, weißer Toast, keine Majonäse. Drei Kaffee: Einer schwarz, kein Zucker, einer hell und mit Zucker, einer normal." Man öffnet seinen Mund, dreht sich zum Sandwich-Mann und lässt alles mit den entsprechenden Abkürzungen raus. "G.A.C. auf zwei, Küste. B.T. unten, ohne Majo." Man dreht sich dann zu den Kaffeebechern und nimmt sie in die Hand. Die Finger umfassen die Becher, zwei übereinander. Der dritte kommt ganz automatisch mit.