"Atomares Roulette"

Nach dem von Erdstößen ausgelösten Brand im größten AKW der Welt warnt der japanische Seismologe Ishibashi vor weiteren Erdbeben in der Region.

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Von
  • Martin Kölling

Der japanische Seismologe Katsuhiko Ishibashi, Professor an der Universität Kobe, hat Mitte der Neunzigerjahre das Hanshin-Erdbeben vorhergesagt, das mehr als 6000 Menschenleben forderte. Nachdem ein unerwartet starkes Erdbeben am 16. Juli in Niigata auch das größte Atomkraftwerk der Welt in Kashiwazaki Karima in Mitleidenschaft zog, warnt der Experte nun vor einem durch Erdbeben ausgelösten atomaren Super-Gau.

Auch die internationale Atomenergiebehörde IAEA zeigt sich besorgt. Am Mittwoch kündigte sie an, ein Untersuchungsteam in das betroffene AKW zu schicken. Bislang hatte Japan, das im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags eigentlich mustergültig mit der IAEA zusammenarbeitet, die Behörde nur ungern in sein ziviles Nuklearprogramm schauen lassen.

Das volle Ausmaß der Schäden ist dem Kraftwerksbetreiber, den Tokioter Elektrizitätswerken (Tepco), noch immer nicht bekannt. "Wir müssen noch die volle Auswirkung des Erdbebens auf unsere Systeme und Teile untersuchen", gestand Ichiro Takekuro, als Tepco-Vizepräsident zuständig für die 17 Meiler des Konzerns, in dieser Woche. Laut Takekuro, der von 2001 bis 2004 selbst das AKW Kashiwazaki-Karima leitete, hätten zumindest die bisherigen Nachforschungen keine "größeren Schäden an wichtigen Einrichtungen" ergeben. Bisher wurden jedoch mindestens 63 Problembereiche gefunden, darunter zwei Lecks, durch die geringe Mengen an Radioaktivität ausgetreten sind. 1,2 Tonnen radioaktives Wasser fanden zudem einen Weg aus dem Becken für ausgebrannte Brennstäbe ins Meer, einige Isotope entwichen zudem durch Lüftungsschächte ins Freie.

Außerdem kam inzwischen ans Licht, dass Tepco das Atomkraftwerk weiterbetrieben hatte, obwohl der Konzern inzwischen entgegen den ursprünglichen Kraftwerksplanungen davon ausgeht, dass sich unter dem Kernkraftwerk eine aktive Erdverwerfung befindet. Neuere Erkenntnisse von Seismologen hätten darauf hingewiesen, dass die Erdverwerfungen, die Tepco bisher öffentlich als "inaktiv" bezeichnet hatte, doch aktiv seien und damit Erdbeben auslösen könnten: "Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse waren wir bereits dabei, eine Nachprüfung vorzunehmen." Tepco plant nun weitere geologische Untersuchungen, die die geologische Struktur unter den sieben Kraftwerksblöcken der gigantischen Anlage klären sollen. Außerdem werde das Kernkraftwerk nun nach den neuen Baurichtlinien von 2006 untersucht. Der Seismologe Katsuhiko Ishibashi hielt diese Prüfung im Gespräch mit Technology Review allerdings für "äußerst ungenügend".

Technology Review: Professor Ishibashi, beim Niigata-Erdbeben starben zehn Menschen. Das größte AKW der Welt mit seinen sieben Reaktorblöcken wurde schwer beschädigt, weil das Erdbeben mit der Stärke 6,8 auf der Richter-Skala dreimal stärker war als im Extremfall vorhergesagt. Doch die Regierung beruhigt die Bevölkerung mit der Versicherung, dass die anderen 48 Reaktoren nun nach den neuen Erdbebenrichtlinien von 2006 überprüft würden. Reichen die denn aus?

Katsuhiko Ishibashi: Die Annahmen und die Berechnungen zur Bodenbewegung bei Erdbeben in den neuen Richtlinien sind äußerst ungenügend. Das liegt daran, dass diese Richtlinien nicht nur für den Bau neuer, sondern auch die Überprüfung alter Atomkraftwerke dienen. Wenn man die Richtlinien deutlich verschärft, müssten vielleicht viele von ihnen geschlossen oder verstärkt werden.

TR: Glauben Sie, dass eine nachträgliche Verstärkung möglich ist?

Ishibashi: Ich bin kein Atomfachmann, aber ich befürchte, dass besonders eine Verstärkung des Reaktorkerns sehr schwierig ist. Die würde fast auf einen Neubau hinauslaufen.

TR: Haben Sie deshalb die Kommission unter Protest verlassen, die die Richtlinien erarbeitet hat?

Ishibashi: Meine Unzufriedenheit mit den Richtlinien war nicht der einzige Grund. Ich fand auch den Diskussionsprozess falsch. Nach unserem Zwischenvorschlag erhielten wir über 700 Kommentare, von denen viele eine Verschärfung forderten. Ich stimmte ihnen zu, aber die anderen Kommissionsmitglieder waren dagegen.

TR: Japan ist das von Erdbeben am stärksten bedrohte Land der Welt, weil unter den Inseln vier Erdplatten aufeinanderstoßen. Glauben Sie, dass die Regierung nach diesem unvorhergesehen starken Erdbeben ihren Ausbau der Atomenergie stoppen wird?

Ishibashi: Nein, ich befürchte, die Lage in Japan wird sich erst ändern, wenn wir wirklich von einem größten anzunehmenden Unfall in einem Atomkraftwerk getroffen werden.

TR: Könnten nach ausländischen Erdbebenrichtlinien wie den amerikanischen überhaupt Kraftwerke in Japan gebaut werden?

Ishibashi: Die US-Standards sind weitaus schärfer. Ich denke, dass die meisten Gebiete in Japan nach ihnen nicht für den Bau von Atomkraftwerken geeignet wären. In Japan konzentrieren wir uns immer noch auf die so genannte aktiven Verwerfungen als Erdbebenherde. Aber auch ohne aktive Verwerfung kann es zu Beben der Stärke 7 kommen wie im Jahr 2000 in der Präfektur Tottori.

TR: Welcher der japanischen Standorte bereitet Ihnen die größten Sorgen?

Ishibashi: Das Atomkraftwerk in Hamaoka. Seine fünf Reaktoren liegen mitten in einer Zone für Klasse-8-Erdbeben, also ein vielfaches des Niigata-Erdbebens. Ein Beben dort gilt unter uns Experten als unmittelbar bevorstehend. Und die Hauptstadt Tokio liegt nur weniger als 200 Kilometer entfernt. Zwei Drittel des Jahres bläst der Wind dorthin.

TR: Im Großraum Tokio leben 35 Millionen Menschen, Hunderte von Konzernhauptquartieren liegen dort. Auch das Regierungs- und Finanzzentrum.

Ishibashi: Unter Umständen müssten zig Millionen Menschen evakuiert werden. Ein Beben in Hamaoka mit einem anschließenden GAU im Atomkraftwerk könnte Japan zerstören und die Welt verändern. (bsc)