Über abgedrehte und weniger abgedrehte Zukünfte

Ein Vortrag über abgedrehte und weniger abgedrehte Zukünfte (VDZ Tech Summit, 24.11.2015)

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Zukunft, Androide, Roboter
Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Jürgen Kuri

Wie sieht eine Zukunft, in die uns IT-Technik und moderne Wissenschaft führen? Wir treffen auf gentechnisch optimierte, mit Hardware aufgerüstete Menschen, die in biologisch-technischen Habitaten leben. Sie kommunizieren mit diesen Habitaten und ihren technischen Einrichtungen, mit den Geräten, die sie nutzen, sowie mit anderen Menschen direkt - immersive Kommunikationskanäle ermöglichen nicht nur Einfluss auf die Umgebung, sondern auch die Kommunikation mit Einzelnen oder ganzen Gruppen.

Abgedrehte Vorstellung? Edeniten nennt Peter F. Hamilton in seinem Armageddon-Zyklus diese künftige Menschheit. Beziehungsweise den einen Teil der Menschheit - der andere, die Adamisten, lehnen jedwede gentechnische Optimierung ab, wenn auch die eine oder andere technischen Aufrüstung des eigenen Körpers dann doch mal geht. Und so abgedreht ist die Vorstellung der Edeniten nicht - viele Entwicklungen, die heute zu beobachten sind, weisen in diese Richtung, auch wenn man diese erweiterte Zukunft vielleicht nicht sofort entdeckt.

Mit den Vorhersagen der Science-Fiction-Autoren ist es aber so eine Sache. Nicht nur Marty McFly kannte in "Zurück in die Zukunft 2" kein Internet (eine Vorstellung, die uns heute, im Jahr 2015, als Marty McFly landete, eher lächerlich erscheint). Auch die Edeniten haben zwar ihre "Affinitätsbänder", über die sie mit anderen Edeniten, einer Gemeinschaft oder ihrer Bi-Technik kommunizieren. Nachrichten aber werden in "Prozessorblocks" per Raumschiff mühsam von Planet zu Planet und von Galaxis zu Galaxis transportiert. Ein planeten- oder gar galaxienverbindendes Internet, wie es Vint Cerf, heute "Evangelist" bei Google, schon in Arbeit hat, davon ist bei Hamilton, der 1996 mit seinem Zyklus anfing, keine Rede.

Ausblicke in eine Zukunft, die mehr als ein, zwei Jahre entfernt liegt, sind schwierig. Aber: Dass sich Kommunikation künftig anders abwickelt, dass Vernetzung mehr ist als der Zugang zum Internet, ist deutlich. Und dass Interaktion mit einer technischen Umwelt und Zugang zu Kommunikation nicht mehr auf diese seltsamen IT-Ziegel, genannt Smartphones, angewiesen sein werden - das ist unausweichlich. Ob Gentechnik und Hardware-Implantate, wie sie etwa Trans- und Posthumanisten heute schon propagieren, die Mittel der Wahl sind, wird sich zeigen.

Zwei Entwicklungen treffen aufeinander: Das Internet der Dinge als Vernetzung auch der alltäglichsten Gerätschaften und eine grundsätzlicher Paradigmenwechsel in der Verarbeitung der anfallenden Daten. Wir bedienen Geräte nicht mehr, indem wir etwas auf ihnen einstellen, eingeben, auf ihnen herum-touchen, ja, nicht einmal dadurch, dass wir mit ihnen sprechen. Die Geräte erkennen, was wir wollen, wir bedienen sie ohne Bedienoberfläche, nur durch unser Verhalten. Dieser Ansatz wird in anderen Bereichen, in denen es um Voraussagen über das Nutzerverhalten geht, Predictive Computing genannt.

Bislang geht es bei der Auswertung riesiger Datenberge durch Data Mining vor allem darum, die Vergangenheit zu erfassen und dadurch Aussagen über die Gegenwart zu treffen: Was wurde verkauft, welche Lagerbestände sind derzeit zu niedrig? Was schaut sich ein Nutzer im Web gerade an, welche Anzeige muss ich einblenden? Es geht künftig aber darum, mit den anfallenden Daten die Gegenwart zu erfassen und dadurch Aussagen über die Zukunft zu treffen. Was wird der User als nächstes machen wollen, welche Geräte müssen also wie reagieren? Welche Aktionen müssen Geräte und Software einleiten, um absehbare Wünsche und Anforderungen auch umsetzen zu können?

Über das Internet der Dinge und die Algorithmen des Predictive Computing kommen in den nächsten Monaten und Jahren die einzelnen dafür notwendigen Elemente zusammen. Von Wearables über intelligente Haustechnik, Sensoren und Aktoren im Stadtraum und Körperdatenauswertung bis hin zu autonomen Autos arbeiten die einzelnen Bestandteile über das Internet der Dinge zusammen, um die Umgebung des Nutzers jederzeit auf seine Wünsche einzustellen, ohne dass er bewusst aktiv werden muss.

Interessanterweise ist eine sehr klassische Industrie an vorderster Front, was diese Entwicklungen angeht. Ausgerechnet in der Autobranche tauchen Techniken auf, die den Eingriff des Anwenders möglichst überflüssig machen sollen. Rund um das autonome Auto entstehen Ideen, die uns von dem Erlernen maschinengerechter Interaktion befreien - wozu in diesem Fall selbst das Herumwischen auf dem Smartphone gehört. Ein autonomes Auto, dass alles selbst machen muss, ergibt keinen Sinn - erst in der Interaktion mit einer intelligenten Umwelt erfüllt es seinen Zweck.

Diese intelligente Umwelt wird in der Smart City aber mehr als nur die Umgebung für das autonome Auto. Durch die Sensoren in der Umgebung weiß die intelligente Stadt, wo ich bin, und meldet meiner Wohnung, dass ich komme. Städte, in denen überall Lichtmasten für die Straßenbeleuchtung, Ampeln, Stromkästen, DSL-Verteiler usw. herumstehen, können ohne größere technische Schwierigkeiten mit einem Sensornetz ausgestattet werden, in das man sich als User einbucht. Die Stadt der Zukunft ist eine vernetzte, digitalisierte Stadt, die sich ständig an die Bedürfnisse der Bewohner anpasst -- und dies auch sehr individuell gestalten kann, indem sie ständig mit der Haustechnik und den Sensoren, die der Nutzer immer noch mit sich herumträgt, kommuniziert. Gleichzeitig ist die intelligente Stadt auch davon abhängig, dass viele Geräte oder Komponenten autonom operieren können, unabhängig vom Nutzer, ohne User-Eingriffe.

Die Umwelt erkennt also meine Bedürfnisse und Vorhaben und richtet sich entsprechend darauf ein, unternimmt bereits das, was ich als nächstes von ihr erwarten werde. Was sich nach Gedankenlesen und "Minority Report" anhört, ist nichts weiter als die erfolgreiche Auswertung der Daten, die Sensoren durch mein Verhalten aufnehmen. Wir bedienen also das Netz und unsere technische Umwelt nicht mehr über ein klassisches User-Interface, das man auch heutzutage oft noch erlernen muss.

Und das ist keineswegs eine Zukunft far, far away: Dass wir Geräte nicht mehr im klassischen Sinne bedienen müssen, gibt es in einzelnen Fällen heute schon. Der Fitness-App auf dem Smartphone oder dem Tracking-Armband oder der Smartwatch sagt man nicht mehr: "Ich gehe jetzt Fahrradfahren!" Das erkennen sie anhand der Sensordaten mittels der Algorithmen, die diese auswerten und mit den Umgebungsbedingungen in Bezug setzen, schon selbst. Und das funktioniert überraschend gut: Selbst ein gar nicht für den Spezialfall ausgerichtetes Smartphone wie mein Nexus 6 liefert genug Sensordaten, wenn ich es in der Jackentasche mitführe, um mit Google Fit die recht genau Erkennung der Art und Dauer meiner körperlichen Aktivitäten zu ermöglichen.

Google zeigt noch weitere Entwicklungen in diese Richtung: Google Now arbeitet mit den Thermostaten der Heimtechnik-Tochter Nest zusammen. Google Now erkennt an den Gewohnheiten und an den Bewegungen des Nutzers: Jetzt geht's nach Hause! Und schon informiert das Smartphone den Nest-Thermostaten: Fahr mal langsam die Temperatur hoch, wir sind in 15 Minuten da, und Jürgen findet es bei 22°C angenehm. Die Thermostaten von Nest wiederum können einem Kühlschrank von LG mitteilen, dass ich gar nicht zu Hause bin - der geht dann in einen Energiesparmodus. Aktivitätstracker wiederum sagen Nest, Jürgen ist zu Hause, schläft aber - 22°C Raumtemperatur sind also nicht sinnvoll.

Das lässt sich beliebig ausbauen -- so können Sensoren in der Wohnung feststellen, welcher Nutzer sich wo aufhält. Die Auswertung der bisherigen Vorlieben ergibt dann Aussagen darüber, welcher Raum wie einzustellen ist: Licht, Wärme, eventuell Musik. Und die Musik beispielsweise wandert nicht wie bei derzeitigen Multiraum-Musikanlangen, wie sie zum Beispiel Sonos oder Teufel liefern, durch manuelle Einstellung seitens des Users mit, sondern begleitet ihn automatisch.

Die Autobranche ist interessanterweise noch aus einem anderen Grund derzeit eine gute Glaskugel für den Blick in die Zukunft: Die Großkopferten der Branche wie VW, BMW, Daimler lernen von jungen IT-Firmen und Newcomern, dass das autonome Auto nicht einfach ein klassischer Wagen mit Autopilot ist. Das ist eine Zwischenstufe, um die Autobahnen auch in Deutschland zu einem angenehmeren Ort als bislang zu machen. Das autonome Auto transformiert aber den Verkehr, vor allem in den Städten, in eine neue Zustandsform. Die intelligente Umgebung weiß, dass ich um 10 Uhr aus dem Haus treten werde, um in die Redaktion zu fahren - die Daten geben mein Kalender und mein Verhalten in der Wohnung her. Sobald ich vor die Tür trete, fährt das Carsharing-Auto von selbst vor, das über andere Daten schon mitbekommen hat, wer denn noch alles in meine Richtung will. Und wenn alle erfolgreich abgesetzt sind, sucht es sich den nächsten freien Parkplatz. Oder den nächsten Fahrgast.

Noch eine andere Branche, von der man es eigentlich nicht erwartet, zeigt die Richtung der Entwicklung: Die Landwirtschaft. Schauen Sie sich einmal auf dem Land um: Sie werden Bauernhöfe finden, deren IT-Ausstattung selbst jedes Unternehmen mit eigener IT-Abteilung blass aussehen lässt. Dass auf der Bauer auf dem Trecker sitzt, liegt eigentlich nur noch daran, dass es rechtlich derzeit nicht zulässig ist, den Trecker ganz ohne menschlichen Aufpasser fahren zu lassen. Ein Feld umpflügen oder ähnliche Standardaufgaben kann so eine Maschine schon längst alleine. Und dass etwa der Trecker zum Düngemittel ausbringen noch klassisch Bahn um Bahn zieht, ist eigentlich eher der Konvention geschuldet: Er könnte auch kreuz und quer, völlig erratisch übers Feld düsen: Das Gerät kann genau erkennen, an welcher Stelle es wie viel Dünger oder Pflanzenschutzmittel ausgebracht hat und besprüht keinen Fleck des Felds, sei er auch noch so klein, zwei Mal (was übrigens nicht nur Geld sparen soll, sondern auch strengen gesetzlichen Vorschriften geschuldet ist).

Wir stehen also am Anfang einer Entwicklung, in der wir das Bedien-Interface nicht mehr mit uns herumschleppen müssen - auch nicht als Smartphone -, sondern die uns nach und nach in eine Situation bringt, in der wir wie die Edeniten mit unserer Umgebung interagieren. Ob Gentechnik, implantierte Chips, direkte Hirn-Netz-Schnittstellen zu den Techniken gehören, die dies ermöglichen, ist gar nicht die entscheidende Frage. Das umfassende Datamining in einer intelligenten Umwelt lässt sich möglicherweise auch mit anderen Mitteln erreichen.

Und was ist in solch einer edenistischen Zukunft mit dem Datenschutz? Nun, wer diese Frage beantworten kann, ist wohl reif dafür, gleichzeitig den Friedens- und den Wirtschaftsnobelpreis zu bekommen.

Festzuhalten bleibt: Privatsphäre ist ein Konstrukt, das sich in der Geschichte verändert, das historischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Konventionen beziehungsweise Veränderungen unterliegt. Das Recht auf Privatsphäre ist auch nicht etwa ein elementares, unverzichtbares Menschenrecht wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Heute schon verlieren wir allein durch unsere alltäglichen Aktivitäten die Kontrolle über unsere Daten - und das in einem Ausmaß, das sich viele Leute gar nicht vorstellen können.

Das stellt das Prinzip der Datenvermeidung, immer noch einer der wichtigsten Grundpfeiler des gegenwärtigen Datenschutzes, grundsätzlich in Frage. So war dann auch eines der wichtigsten Themen auf dem vergangene Woche abgehaltenen 9. IT-Gipfel der Bundesregierung: Datensouveränität statt Datenvermeidung. Heute schon wollen wir ja oft, dass unsere Daten genutzt werden, da dies unser Leben erleichtert, unseren Alltag bequem macht. Dies wird rasant zunehmen. Daher ist es ganz richtig, dass eine neue Konzeption von Datenschutz für intelligente Umgebungen, für ein Smart Urban Environment, das Prinzip der Datensouveränität in den Vordergrund stellen muss: Ich selbst entscheide, wie weit das Dataminig für die intelligente Umgebung gehen soll.

Das gilt dann aber wohl nur, soweit es meine eigene Person betrifft. Denn da die intelligente Umgebung auch davon lebt, dass möglichst durch viele Menschen und ihre Interaktionen Daten anfallen, sind sie ja möglicherweise auch für den Alltag anderer Menschen wichtig. Vergleichbar zum Prinzip "Meine Freiheit endet da, wo die Freiheit eines anderen eingeschränkt wird" könnte es heißen: Meine Datensouveränität endet da, wo der digitale Alltag eines anderen gestört wird? Wie das aussehen kann, ist eine drängende Frage: Beantworten wir sie nicht, dann beantworten sie die Konzerne, die intelligente Umgebungen aufbauen, für uns.

Und wo wir schon beim Datenschutz sind: Wie stehts denn um die Datensicherheit? Schlecht, kann man nur sagen. Was bei der Entwicklung der grundlegenden Techniken des Internet aus dem Glauben an das Gute im Menschen heraus versäumt wurde, scheint man bei der Schaffung der Protokolle, Netze und Geräte für die intelligente Umgebung aus Bequemlichkeit und Nachlässigkeit zu wiederholen. Sicherheit ist kein eingebautes Feature, beziehungsweise teilweise kompromittieren haarsträubende Fehler und Designschwächen die Sicherheit intelligenter Umgebungen. Sicherheitslücken und Designschwächen sind aber immer wieder auch in anderen Bereichen aufgetaucht, die die Integrität intelligenter Umgebungen in Frage stellen können. Solche Fehler kann sich die Industrie aber für die Zukunft eines digitalen Alltags nicht erlauben - denn da geht es nicht, wie bei der eigentlich gewollten Offenheit der Internet-Protokolle, um Schäden an IT-Geräten, sondern im Zweifelsfall um Menschenleben.

Um Menschenleben geht es noch auf andere Weise: Wenn die Netze und Maschinen entscheiden, welche Aktionen sie aufgrund unseres Verhaltens auslösen, dann können Konflikte zwischen diesen gewollten Aktionen und einer möglichen Gefährdung von Menschenleben auftreten. Oder, im extremsten Fall: Die Aktion der Maschinen, die mich vor Verletzung schützen soll, tötet andere Menschen.

Eine Maschinen-Ethik, die etwa den Tod eines einzelnen Menschen beim Versuch in Kauf nimmt, das Leben mehrerer anderer Menschen zu retten, ist rechtlich nicht zulässig: Nach deutschen Recht ist das gegenseitige Aufrechnen von Menschenleben nicht erlaubt, wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt bei der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz entschied. Es sollte das Abschießen einer von Terroristen gekaperten Maschine erlauben, die über einer Stadt zum Absturz gebracht werden sollte. Ein Mensch - und damit natürlich auch eine von ihm geschaffene Maschine - hat nicht das Recht, den Wert eines Menschenlebens gegen den eines anderen aufzurechnen. Auch nicht quantitativ.

Andererseits ist es auch nicht zulässig, dass die Maschine den Versuch, einen Menschenleben zu retten nicht unternimmt. Die Maschine kann diesen Konflikt nicht auflösen: In "2001 - Odyssee im Weltraum" wurde der Missionscomputer Hal9000 angesichts des Konflikts zwischen Pflicht zur Missionserfüllung und Pflicht zum Schutz der Besatzung wahnsinnig. Aber "I'm sorry Dave, I can't do that" ist keine sinnvolle Antwort der Maschine in einer intelligenten Umgebung. Ethik und Recht sind, möglicherweise in noch viel umfassenderen Maß als der Datenschutz, von den Entwicklungen hin zu einer edenitischen Gesellschaft betroffen. Und bislang hat die Diskussion darum gerade erst angefangen.

Sie sehen also: Die Abschaffung des Bedien-Interfaces, das Entstehen einer intelligenten digitalen Umwelt hält viele Versprechen zur Erleichterung unseres Lebens bereit. Und wirft viele Fragen auf, die noch lange nicht beantwortet sind. Wir sind, ähnlich wie beim Internet und der Vernetzung unseres Alltags, mit einer Technik konfrontiert, die die Gesellschaft anfängt zu benutzen, bevor sie wirklich damit umzugehen gelernt hat. Es ist viel zu tun.

(Ein Vortrag, gehalten auf dem VDZ Tech Summit am 24.11.2015) (jk)