Kommentar: Am Gängelband der Algorithmen

Algorithmen treffen immer mehr folgenschwere Entscheidungen, und niemanden interessiert es. Obwohl immerhin unsere Selbstbestimmung und Freiheit auf dem Spiel steht, findet Jürgen Diercks.

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Gefahren aus dem Netz

(Bild: dpa, Ole Spata/Archiv)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Jürgen Diercks
Inhaltsverzeichnis

Mitmenschen zu verstehen, ist oft nicht einfach. Und gelegentlich versteht man sich selbst nicht. Oder ärgert sich über Entscheidungen, von denen man hätte wissen können, dass sie falsch sind. Beispielsweise sollte jeder fröhliche Zecher das Naturgesetz vom letzten Bier kennen, das immer schlecht ist.

Ein Kommentar von Jürgen Diercks

Jürgen Diercks schreibt seit 1992 für die iX. Er interessiert sich besonders dafür, wie Informationstechnik gesellschaftliche Prozesse verändert.

Gut, dass uns bei den wirklich wichtigen Fragen des Lebens nun Maschinen und Algorithmen zur Seite stehen, das eingangs skizzierte Problem ließe sich damit leicht lösen. Oder übersehen wir dabei vielleicht die dunkle Seite der Algorithmen? Schauen wir uns doch mal ein paar Beispiele an.

Eine wahre Steilvorlage für Regisseure von Horrorfilmen liefert FindFace, eine von zwei jungen Russen erfundene App zur Gesichtserkennung: Ein mit dem Smartphone aufgenommenes Portrait lässt sich derzeit schon mit Bildern im russischen Facebook-Klon Vkontakte abgleichen, das prompt alle vorliegenden Informationen zu diesem Individuum an den Anfrager zurückliefert. Der endgültige Tod der Privatsphäre, die ja schon seit längerer Zeit vor sich hinsiecht. Dass Polizei und Geheimdienste nicht nur totalitärer Staaten sich brennend für die Technik interessieren, dürfte niemanden wundern.

Ähnlich perfide funktioniert die Dienstleistung des britischen Start-ups Core Assured, mit der Vermieter sich lückenlose Profile potenzieller Mieter erstellen lassen können. Die Daten sammelt die Anwendung in sozialen Netzwerken. Hier geht es nicht nur um allgemein einsehbare Informationen, sondern auch um vollständige Konversationen und private Nachrichten, die durch zahlreiche Analyseprogramme gejagt werden. Ein paar falsche Einträge und der Interessent darf dauerhaft unter der Brücke schlafen.

Da muten die sogenannten Fitnessarmbänder, die unentwegt Daten körperlicher Funktionen an die Krankenkasse funken können, geradezu niedlich an. Denn damit lässt sich lediglich das Solidarprinzip aushebeln, lange Zeit Geschäftsmodell der Krankenversicherungen: Alle zahlen ein, und der, der es nötig hat, bekommt seine Behandlung bezahlt. Nun wollen Manager der Krankenkassen am liebsten jedem Versicherten eine solche Körperwanze verpassen.

Mit den derart gewonnenen Daten, die viele freiwillig abgeben würden, weil sie an das Versprechen sinkender Beiträge glauben, könnte man doch so schön die Tarife differenzieren: Der fettleibige Raucher, dessen täglich Brot ausschließlich aus Pizza vom Bringdienst besteht, soll gefälligst mehr einzahlen, als der, der sich systemkonform verhält, täglich joggt, sich vegan ernährt und ansonsten als Langweiler durchs Leben zuckelt. Was ist aber, wenn seine Werte, etwa wegen einer Krankheit, plötzlich nicht mehr stimmen? Dann hat der fleißige Datenlieferant plötzlich ebenfalls sein digitales Stigma weg. Tja, Pech gehabt.

Die Entwickler finden übrigens meist nichts Schlimmes an der Sache und begründen sie mit dem reichlich dämlichen Argument, dass man den Fortschritt ohnehin nicht aufhalten könne. Fortschritt sollte allerdings die Gesellschaft voranbringen und nicht ins finstere Mittelalter mit Hexenverbrennungen und öffentlichen Prangern zurückwerfen.

Die Liste von Folter-Anwendungen ließe sich ohne Mühe beliebig lange fortführen. Amazons "anticipatory shipping", dass dem Kunden ungefragt Waren zuschickt, weil er sie bestimmt demnächst bestellt hätte, gehört ohne Frage darauf. Ebenso die diskutierte Obergrenze bei den Bargeld-Zahlungen, die nicht nur den Mafioso an die Kette legen soll, sondern auch unbescholtenen Bürgern ein großes Stück Freiheit nehmen würde. Und vom Internet of Things fange ich lieber gar nicht erst nicht an.

Hinzu kommt: Alle beschriebenen Prothesen für eine einigermaßen erfüllte Existenz funktionieren nur mit einem enormen Energieeinsatz und benötigen als weiteres Futter unfassbar große Datenmengen, die ihnen ständig von sozialen Netzwerken, Trackern, Fahrzeugen, Smartphones und so weiter in den unersättlichen Schlund gekippt werden. In diesem Sumpf aus größtenteils irrelevantem Datenmüll suchen die Nutznießer solcher Techniken angeblich nach Lösungen für alle Weltprobleme und verlassen sich blind auf Algorithmen, die nichts anderes sind als stupide mathematische Wirkungsketten. Leider verwechseln die Betreffenden dabei oft Ursache und Wirkung. Und wir verlieren die Kontrolle über unser Leben. (jd) / (axk)