Pleite des Telecom-Ausrüsters Nortel: Millionen für Manager, Milliarden für Finanzfirmen

Die Abwicklung der 2009 pleite gegangenen Nortel verschlingt Unsummen. Manager und Insolvenzverwalter verdienen prächtig. Das geht zu Lasten der geschädigten Mitarbeiter, Rentner und Lieferanten. Sie warten weiter auf ihr Geld.

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Nortel Germany Firmenschild

(Bild: Allie Caulfield CC-BY 2.0)

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Inhaltsverzeichnis

Im Januar 2009 hat der kanadische Telekommunikationsausrüster Nortel sein Insolvenzverfahren eingeleitet. Über 80.000 Mitarbeiter und ehemalige Mitarbeiter, sowie deren Familien, kamen zu Schaden. Ertragreich ist das Insolvenzverfahren für Manager und Finanzdienstleiter. Für nord- und lateinamerikanische Manager gab es 190 Millionen US-Dollar Boni für die Jahre 2009 bis 2017. Insolvenzverwalter auf beiden Seiten des Atlantik verdienten bisher sogar mindestens zwei Milliarden US-Dollar.

EY hieß einst Ernst&Young.

(Bild: EY)

Alleine auf EY (Ernst & Young) entfällt mindestens eine halbe Milliarde Dollar für EYs Arbeit als gerichtlicher Insolvenzverwalter (Court Monitor) der kanadischen Teile Nortels, als Abwickler der britischen Teile und als Steuerberater jenes Gremiums, das bestimmte US-Inhaber unbesicherter Forderungen vertritt. Vor kurzem hat EY seinen 129. Bericht an das kanadische Insolvenzgericht übermittelt. Darin werden 500.000 US-Dollar Bindungsprämien (Retention Bonus) für acht kanadische Manager und einen aus dem lateinamerikanischen Raum beantragt.

Die Kanadierin Diane Urquhart hat die Boni aufsummiert, die in öffentlichen Gerichtsunterlagen zu entnehmen sind. Urquhart ist eine unabhängige Finanzexpertin. Sie setzt sich unentgeltlich für 350 langzeitbehinderte kanadische Ex-Nortel-Mitarbeiter, deren 85 Partner und 160 Kinder ein. Ihnen wurde zustehende Unterstützung vorenthalten; sie leiden besonders unter Nortels Niedergang.

Diane Urquhart

"Die Bindungsprämien und Gebühren für die Abwicklung, die aus der Insolvenzmasse bezahlt werden, sind unverschämt", ärgerte sich Urquhart, "Gleichzeitig müssen langzeitbehinderte kanadische Ex-Mitarbeiter in Armut leben, mit nur 15.500 kanadischen Dollar (10.400 Euro) im Jahr aus [kanadischen Sozialleistungen]." Das Nortel-Management habe vor der Insolvenz 60 Millionen Dollar aus dem [Nortel Gesundheitsfonds] entnommen.

"Der Insolvenzverwalter hat absichtlich Beweise für Betrug vorenthalten, so dass das Gericht 2010 eine mickrige Beilegung aufgezwungen hat", berichtete Urquhart heise online. Den Langzeitbehinderten wurden laut Gewerkschaft 38 Prozent des Werts ihrer gesundheitsbezogenen Ansprüche und 20 Prozent des Werts ihrer Lebensversicherung zugesprochen.

Die streitbare Kanadierin hat den Kampf für ihre Schützlinge aber nicht aufgegeben. Sie beobachtet die verschiedenen Verfahren und sammelt Daten daraus. Einen Auszug enthält die folgende Tabelle (teilweise ergänzt von heise online). Sie zeigt die nach der Insolvenz aufgelegten Bonusprogramme für Manager. Zu Beginn sind auch leitende Angestellte mit einbezogen.

Jahr Genehmigte Bonusprogramme
Mio. US$ Begünstigte
2009 Key Executive Incentive Plan 23,0
92
2009 Key Employee Retention Plan 22,0 880
2010 Special Incentive Plan 2010/11 92,4 1475
2010 Reserve Pool 2010/11 7,0 ?
2010 Discretionary Pool 2010/11
20,0 ?
2010 Special Employee Agreements 2010/11
4,5 ?
2011 Retention Plan 2012 3,9 148
2011 Incentive Plan 2012 3,5 97
2011 Special Employee Agreements 2012 1,0 3
2012 Rentention Plan 2013 1,4 39
2012 Incentive Plan 2013 1,1 7
2012 Special Employee Agreements 2013 0,8
3
2013 Retention Plan 2014 0,9 20
2014 Retention Plan 2015 0,5 16
2015 Retention Plan 2016 0,5 9
2016 Retention Plan 2017 0,5
9
Summe (ohne EMEA) 183

Die zusammen 183 Millionen US-Dollar wurden vom Insolvenzgericht in Kanada oder den USA genehmigt, aber nicht voll ausgeschöpft. Der kanadische Rundfunk CBC hat aufgedeckt, dass es 2009 noch ein weiteres, offenbar nicht gerichtlich genehmigtes Bonusprogramm gegeben haben dürfte. 72 Personen sollen insgesamt 7,5 Millionen US-Dollar zugeteilt worden sein.

Damit sind in Summe mehr als 190 Millionen Dollar bekannt. Die tatsächlichen Ausschüttungen liegen sicher höher. Denn die Bonusprogramme seit Insolvenzbeginn von Nortel EMEA (Europa, Naher Osten Afrika) werden nicht offengelegt.

Wie andere Beschäftigte auch fordern ehemalige Manager ausstehende Gehälter, Abfertigungen und Pensionsansprüche ein. Aus der Reihe fallen jedoch zwei spezielle Forderungen: Mike Zafirovski, der Nortel in die Pleite geführt hat und dem einige Monate danach gekündigt wurde, meldete anschließend Forderungen über 12,3 Millionen US-Dollar an. Davon entfällt etwa die Hälfte auf seine Pension.

Sogar um bis zu 215 Millionen geht es bei Zafirovskis Amtsvorgänger Frank Dunn. Dunn war 2004 nach 28 Jahren Betriebszugehörigkeit gefeuert und später wegen Betrugs, Bilanzfälschung, Dokumentenfälschung und anderen Finanzvergehen angeklagt worden. Nortel musste Strafe zahlen, doch der Manager wurde freigesprochen. Dunn klagte seinerseits Nortel wegen ungerechtfertiger Entlassung, übler Nachrede und "mentalem Stress". Dafür stehen nun 215 Millionen Dollar in den Büchern. Das Gerichtsverfahren, dessen Akt teilweise unter Verschluss gehalten wird, läuft noch.

Die Zuwendungen an Manager sind aber beileibe nicht der größte Kostenfaktor. Insolvenzanwälte, Steuerberater, Buchhalter und so weiter in den USA, Kanada und Europa verdienen prächtig an dem seit mehr als sieben Jahren laufenden Insolvenzverfahren. Bei manchen soll der Stundenlohn vierstellig sein. Bisher sind etwa zwei Milliarden US-Dollar zusammengekommen.

Ein Ende ist nicht in Sicht. Der Betrag wird absehbar jenen des bisher teuersten Insolvenzverfahrens übersteigen. Die Abwicklung von Lehman Brothers soll 2,2 Milliarden Dollar Gebühren gekostet haben. Dort waren allerdings mehr als 600 Milliarden Dollar zu verteilen. Die Abwicklung der Nortel-Werte hat "nur" gut neun Milliarden Dollar eingebracht.

Nach Nortels Auszug aus dem Carling Campus in Ottawa wurden dort Abhörwanzen gefunden.

(Bild: Iouri Goussev CC-BY-SA 2.0)

Nortel ist das wohl komplexeste und, nach Gebühren gerechnet, teuerste Insolvenzverfahren aller Zeiten. Das Konzerngeflecht ist über zig Länder verteilt, wobei unklar ist, was welcher Teilfirma gehört. Sie erheben Forderungen gegeneinander aus konzerninternen Geschäften. Gleichzeitig haben manche Nortel-Gesellschaften für Konzernschwestern gebürgt. Nachdem mehrere Mediationsverfahren gescheitert sind, ist die Aufteilung des Vermögens eine Herkulesaufgabe für die zuständigen Gerichte.

Für so etwas gibt es keine Präzedenzfälle. 2013 haben ein kanadischer und ein US-amerikanischer Richter den bahnbrechenden Anlauf unternommen, einen gemeinsamen, grenzüberschreitenden Verteilungsschlüssel auszuarbeiten. Damals harrten mindestens 9,3 Milliarden Dollar der Verteilung. 2015 legten die Richter schließlich ihr Ergebnis vor.

"Nicht einmal ein Romanautor hätte gewagt, die Geschichte des Todes dieses multinationalen Unternehmens und des Schadens, den er zehntausenden Mitarbeitern und Gläubigern zugefügt hat, zu schreiben", hielt US-Insolvenzrichter Kevin Gross in seiner Entscheidung fest. "Im Jahr 2000 hatte das [Nortel-Imperium …] eine Marktkapitalisierung von 260 Milliarden Dollar. Es beschäftigte fast 100.000 Menschen in aller Welt und hatte einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Dollar."

Selbstredend wurde gegen den grenzüberschreitenden Verteilungsschlüssel umgehend auf beiden Seiten der Grenze von allen möglichen Gläubigern Einspruch eingelegt. Niemand weiß, was passiert, sollten die Berufungsgerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Alle sonst noch offenen Fragen vor Gerichten auszujudizieren würde Jahrzehnte dauern.

Solange die zentralen Verfahren nicht abgeschlossen sind, liegt die Insolvenzmasse auf Treuhandkonten. Derweil fließen jedes Monat Millionen an Insolvenzverwalter und Manager. Es wäre nur menschlich, wenn sie es nicht eilig hätten.

Ehemaliges Gebäude von Nortel Networks Germany in Frankfurt/Main

(Bild: Allie Caulfield CC-BY 2.0)

Zur Veranschaulichung sei auf den Monatsbericht des US-Insolvenzverwalters vom Juni verwiesen. Knapp 7,3 Milliarden Dollar aus den Nortel-Verkaufserlösen lagen damals auf Treuhandkonten. Dazu kamen 578 Millionen Dollar Barvermögen plus etwa 111 Millionen weiteres Vermögen.

0,9 Millionen Dollar konnte der US-Insolvenzverwalter in dem Monat einnehmen, überwiegend aus Mieten. Ausgegeben wurden 2,7 Millionen Dollar "normale Zahlungen" plus 4,3 Millionen Gebühren für die Insolvenzverwaltung. Damit waren am Ende des Monats 6,1 Millionen Dollar weniger in der Barkasse, ohne dass auch nur ein Gläubiger befriedigt worden wäre.

Laut Urquharts Zählung sind über 45.000 Rentner und etwa 35.000 Mitarbeiter von der Nortel-Pleite betroffen. Von diesen gut 80.000 Personen sind rund 25.000 in Kanada ansässig, 22.000 in den USA und 34.000 in Europa, dem Nahen Osten und Afrika. Sie warten auf Gehälter, Abfertigungen, Pensionen und Krankenversicherungsleistungen.

Die Pensionen aus den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich sind durch Garantien gedeckt, was ein Segen für die betroffenen Ex-Norteler ist. In der kanadischen Provinz Ontario zahlt eine Versicherung 12.000 kanadische Dollar pro Jahr und Person. Diese Ausfallsleistungen werden aber entweder vom Steuerzahler oder von allen anderen Rentenprogrammen getragen. Das heißt, dass die Allgemeinheit dafür aufkommt. So gesehen gibt es weit mehr als 80.000 Geschädigte.

Avaya übernahm Nortel Enterprise Solutions und vertreibt IP-Kommunikation mit Nortel-Ursprung

(Bild: Retaildesigner CC-BY-SA 3.0)

Der Gesamtschaden aus der Nortel-Insolvenz ist bis heute ungeklärt. Angemeldet wurden laut einem kanadischen Dokument Forderungen über fast 40 Milliarden kanadischer Dollar (etwa 30 Milliarden US-Dollar). Doch nicht alle Forderungen sind gerechtfertigt, und viele wurden mehrfach angemeldet, weil es so viele verschiedene Nortel-Gesellschaften und damit Vermögensmassen gibt.

Urquharts persönliche Schätzung kommt auf 12,1 Milliarden US-Dollar Schaden. Davon entfallen 5,6 Milliarden auf (ehemalige) Mitarbeiter, 4,2 Milliarden auf Inhaber von Schuldverschreibungen, 350 Millionen auf Vermieter und 2 Milliarden auf Lieferanten und sonstige Gläubiger. Aufgrund der komplexen Vertragsbeziehungen und der teilweisen Bürgschaften innerhalb des Konzerns kommt es zu frappanten regionalen Unterschieden bei der Insolvenzquote.

Während Inhaber von US-Schuldverschreibungen laut Urquhart 90 Cent pro Dollar winken, und andere US-Gläubiger auf 80 Prozent hoffen dürfen, bleibt Schuldnern in Europa, dem Nahen Osten und Afrika die Aussicht auf 70 Prozent. Kanadier haben demnach mit lediglich 45 Cent je Dollar das Nachsehen. Der weltweite Durchschnitt könnte 70 Prozent erreichen – wenn nicht noch weitere Milliarden für die Masseverwaltung draufgehen.

Nun sind 70 Prozent eine extrem hohe Insolvenzquote. Solch hohe Ausschüttungen gibt es bei bankrotten Unternehmen eigentlich nicht. Oft müssen sich Insolvenzopfer mit einstelligen Prozentsätzen abfinden. Das führt zu der Frage, warum Nortel überhaupt Gläubigerschutz angemeldet hat.

"Ich bin der Ansicht, dass Nortel nie bankrott war im Sinne des Nicht-Genug-Geld-Habens, um die Schuldverschreibungen auszahlen zu können[…]", meint Urquhart. "Nortel hat freiwillig den [Gläubigerschutz] ausgelöst, indem es sich dazu entschieden hat, 2009 die Zinsen nicht zu zahlen." Zwei Wochen vor dem Insolvenzantrag hatte Nortel laut Jahresbericht 2008 noch 2,4 Milliarden US-Dollar Barvermögen.

Nortel habe keine Anstrengungen unternommen, Unternehmensteile zu verkaufen, um die 2011 und 2012 anstehenden Rückzahlungen zu finanzieren, beklagte Urquhart: "Hätte es das getan, wäre es heute noch im Geschäft." Dazu passt, dass Nortel damals 3,8 Milliarden Dollar absehbare Außenstände hatte. Die Insolvenzverkäufe haben mehr als neun Milliarden eingebracht. Und Insolvenzverkäufe erzielen in der Regel relativ geringe Verkaufspreise.

Natürlich gibt es nicht nur Verlierer. Profitiert haben beispielsweise bestimmte Manager, die die Abwicklung leiten und zusätzlich zu ihren Gehältern seit Jahren Boni kassieren; die Insolvenzanwälte und andere Beteiligte, die ohne Insolvenz nicht so viel zu verwalten hätten; Inhaber versicherter Schuldverschreibungen, die die Versicherungsleistung in Anspruch nehmen konnten; so genannte Geierfonds, die von Gläubigern in Geldnot unbesicherte Forderungen zu Bruchteilen des Wertes aufgekauft haben und auf die hohe Insolvenzquote warten können; oder jene ehemaligen Konkurrenten, die Nortel-Vermögenswerte zum Schleuderpreis erstanden haben. (ds)