Vor 30 Jahren: Die Grünen und der Chaos Computer Club

Der Chaos Computer Club lieferte 1986 sein erstes Gutachten für eine Partei ab: Die Grünen suchten Beratung zum Einsatz von Computern für die Parteiarbeit. "Trau keinem Computer, den du nicht (er) tragen kannst", riet der CCC damals.

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Vor 30 Jahren: Die Grünen und der Chaos Computer Club
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Heutzutage ist der Chaos Computer Club (CCC) ein gefragter Ansprechpartner der Politik. Man denke nur an das kürzlich veröffentlichte Sachverständigen-Gutachten für den NSA-Untersuchungsausschuss. Das war nicht immer so: Vor 30 Jahren lieferte der CCC sein erstes politisches Gutachten ab, mit dem er die Grünen im Bundestag zum Einsatz von Computern im Politikbetrieb beriet. Was in der offiziellen CCC-Geschichte als grandioser Erfolg gefeiert und bei den Mitgutachtern vom "Arbeitskreis Politischer Computereinsatz" zur Datendämmerung verklärt wurde, war nur eines von zwei Gutachten.

Vor 30 Jahren arbeitete die deutsche Politik mit Telefonen, Speicherschreibmaschinen, Telefaxen und Fernschreibern. Computer, das waren Großgeräte mit irgendwelchen Datenbanken, bedient von IT-Experten. Vernetzte Computersysteme, so etwas hatten nur die begüterten Linksaußen vom Kommunistischen Bund Westdeutschland. Die lösten sich mangels Weltrevolution 1985 auf und verscherbelten ihr DECnet mit PDP-Rechnern und Terminals, die über ganz Deutschland verteilt waren.

In der großen Politik sollte es alles besser und anders werden: das Zauberwort hieß ISDN und meinte die Integration von Sprache und Daten in einem Netzwerk. Am 1. Juli 1986 beschloss der Ältestenrat des Deutschen Bundestages nach einem außerordentlich positiven Gutachten der GMD St. Augustin – damals das führende Informatik-Institut Deutschlands – die Einführung eines Informations- und Kommunikationssystems (IuK-System) namens Parlakom. Zunächst war ein Testlauf geplant, für den 8,7 Millionen DM angesetzt wurden. Drei Millionen gingen anteilsmäßig an die Fraktionen, damit sie mit eigenen Ideen und Geräten experimentieren konnten. Aufgeschlüsselt nach den Sitzen im Bundestag erhielten die Grünen 300.000 DM. Weil sie damals noch eine freche junge Partei waren, verkündeten sie nassforsch, was mit dem Geld gemacht wird: "Dann stellen wir ein paar Hacker ein und gucken dem Geißler in die Karten."

Tatsächlich beschlossen die Grünen, 75.000 DM von der Gesamtsumme für ein eigenes Gutachten auszugeben, das klären sollte, ob Parlakom/ISDN und Computer wirklich mit den Zielen und Positionen der Grünen kompatibel sind. Damit unterschieden sich die Grünen von der CDU/CSU und SPD, die Wang-Computer einkauften. Immerhin holten sich die Sozialdemokraten eine Stellungnahme des damaligen hessischen Datenschützers Spiros Simitis ein. Dieser warnte unter Verweis auf das Volkszählungsurteil vor der Gefahr, dass Parlamentarier den Datenschutz missachten, und forderte hauptamtliche Datenschutzbeauftragte für jede Fraktion.

Wer aber war 1986 geeignet, ein technikkritisches Gutachten für die Grünen zu erstellen? Man wandte sich an die Hacker vom Chaos Computer Club in Hamburg. Dieser bewarb sich alsdann zusammen mit einem "Arbeitskreis Politischer Computereinsatz" (APOC) für das Gutachten. Bei ersten Sondierungsgesprächen machten die Hamburger nach dem Urteil der Grünen "dem ersten C in ihrem Namen alle Ehre" und so entschloss man sich, mit der heute noch existierenden Beratungsgesellschaft Ibek einen klassischen Gutachter hinzuzunehmen. Für jeweils 37.500 DM machten sich beide Beraterteams an die Arbeit und sollten bis zum 21. Oktober ihre Gutachten der Fraktion vorlegen, deren Kurzfassungen vor 30 Jahren an alle Abgeordnete, aber auch an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ging.

Gerade bei den "Fraktionsmitarbeiter/Innen" war das Misstrauen gegen die Berater groß. Man vermutete, dass das geplante IuK-System zur Disziplinierung und Überwachung der Mitarbeiter führen und grüne Partizipations- und Rotationsprinzipien verunmöglichen könnte. Besonders misstrauisch waren die Grünen gegenüber der "Hamburger GbR", wie sich das Gutachter-Team rund um den CCC/APOC nannte. Der Ruhm, das auch von den Grünen abgelehnte Btx-System im Jahr 1984 geknackt zu haben, reichte nicht unbedingt als Empfehlung.

So urteilte damals Ulrike Erb, 1986 Referentin für Telekommunikationspolitik, heute Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Bremerhaven: "Durch ihre Technikkritik tragen sie zu einer Perfektionierung der Technik bei, ohne die Technik in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu sehen. CCC/APOC haben keinen Zugang zu gewerkschaftlicher und GRÜNER Kritik an IuK-Techniken (Rationalisierungspotential, Überwachungsmöglichkeiten, Sozialschädlichkeit u.ä.). Datenschutz wird von ihnen nur als Problem der Datensicherheit gesehen (wie leicht sind Datenbanken zu knacken?). Ihre Kritik am Btx-System bezieht sich lediglich auf technische Mängel, während die GRÜN-alternative Kritik an Btx sich vor allem auf dessen Funktion als Einstiegsdroge in eine -- von staatlichen Geldern finanzierte – Rationalisierungsdroge bezieht."

Bei der Arbeit der Beraterteams wurden schnell die Unterschiede deutlich. Ibek lieferte säuberlich getippte/formatierte Projektzwischenstände, "die Hamburger" hingegen kurze Telex-Nachrichten. Eigentlich schrieben sie E-Mails im Geonet-System von Günther Leue, das einen Mail-Gateway besaß und ihre Nachrichten an die "grib" (Grünen im Bundestag) als Telex konvertierte, in Kleinschreibung und ohne Umlaute. Ibek führte über alle Beratungsgespräche Buch, bei den "Hamburgern" ist vom "Gequatsche mit grünen Mittelklasse-Gurus" die Rede.

Auch die Gutachten, die am 20. Oktober 1986 bei den Grünen eintrafen, unterschieden sich erheblich. Das Ibek-Gutachten war sauber getippt und sachlich im Stil, das Gutachten des CCC/APOC eine Art Aufsatzsammlung verschiedener Autoren mit Wortspielereien (1. Wühlperiode) und Exkursen von der Bibel bis hin zu der Frage, ob Frauen einen anderen Zugang zum Computer haben als Männer – beide Beratungsteams waren durchweg Männer. Unter dem Zwischentitel "Trau keinem Computer, den du nicht (er)tragen kannst" erschien das CCC/APOC-Gutachten als 117. Grüner Zweig, als Buch im Verlag auf Grüne Kraft von Werner Pieper. Am 22. Oktober wurden Kurzfassungen beider Gutachten an alle Fraktionsmitglieder und -Mitarbeiter verteilt.

Der damalige Grünen-Betriebsrat Roland Appel, heute Blogger bei der Rheinischen Allgemeine, erinnert sich: "Während der CCC zum Teil Diskussionen führte, die irgendwo zwischen Existenzphilosophie, kryptischer Gesellschaftskritik und dem Zauber der neuen Technik als Möglichkeit zur Weltveränderung lagen, verfuhr die Ibek doch recht bodenständig entlang der Fragen der Mitarbeiter und des Betriebsrates, ob und wie und vor allem wofür man denn möglicherweise Computer brauchen und benutzen könne. Während ich als Betriebsrat (und AK III-Koordinator, in dem auch die Netzpolitik angesiedelt war und ist) die CCC-Leute als ziemlich arrogant und ignorant gegenüber Mitarbeiterrechten erinnere, haben wir mit den Ibek-Leuten doch ziemlich konkret über Ergonomie, Datenschutz, Augenbelastung bei Bildschirmarbeit gesprochen."

Bei allen stilistischen und philosophischen Unterschieden sind die inhaltlichen Ähnlichkeiten beider Gutachten aus heutiger Sicht viel auffälliger. Sowohl die Hamburger als auch Ibek lehnten das ISDN-System Parlakom ab. "Die Grünen können technische Kommunikationsmöglichkeiten auch ohne ISDN bedarfsgerecht nutzen", befand Ibek, während CCC/APOC schrieben: "Eine Beteiligung an Parlakom ist nicht wichtig, das das rigide Hardwarekonzept (Teletex) nicht flexibel genug ist für einen phantasievollen Einsatz." Dazu malten sie ein Schaubild aus einem US-Buch über ISDN kontra Internet-Technik ab.

Die Hacker empfahlen den Grünen in der Tradition von alternativen Gegenöffentlichkeiten die Einrichtung einer "Orientierungsstube", die wie weiland die Medienläden der 70er Computer, Drucker und Modem für die Datenreise bereit halten sollte. Ibek schlug ein "Benutzer-Service-Zentrum" vor, in dem ein kundiger ITler mit Rat und Tat arbeiten und Einführungen in Textverarbeitung und Datenbank-Retrieval geben sollte. Beide Beratungsteams empfahlen den Grünen überdies, eine "friedens- und umweltpolitische Datenbank" aufzubauen oder sich an Datenbanken wie Toxline oder dem "Biblio"-Projekt der Berghof-Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung zu beteiligen.

Unterschiedlicher fielen die Empfehlungen aus, was den Computereinsatz betrifft, sollten die Grünen doch die Technik nutzen wollen. Die "Hamburger" empfahlen einen PC mit mindestens 512 KB Speicher, 2 Diskettenlaufwerken, 20 MByte Festplatte, MS-DOS und Plasmabildschirm. Besonders wichtig: RS232-Schnittstellen zur Datenübertragung mit Modem und Datex-P. Die Gutachter von Ibek legten Wert auf deutsche Technik und empfahlen ein Nixdorf-System: "Nach dem jetzigen Stand der Analyse wird Nixdorf leicht präferiert, wegen des einheitlichen Systemkonzeptes, sehr guter Hardware-Ergonomie und einem überdurchschnittlichen Datenschutzkonzept."

Die beiden Gutachten blieben nicht ohne Folgen. Am 30. Oktober 1986 beschloss die Betriebsversammlung der Grünen, ISDN abzulehnen "und den Erhalt des analogen Telefonnetzes sicherzustellen". Zusätzlich lehnte man Parlakom ab und wollte die Fraktion verpflichten, keine weiteren Mittel aus dem Parlakom-Fonds in Anspruch zu nehmen. Die sah das etwas anders und hatte in ihrer eigenen Beschlussvorlage den Vorbehalt eingebaut, doch Mittel aus dem Fraktionskontingent in Anspruch zu nehmen, sollte ein Arbeitsbereich einen Computer benötigen. Dieser Vorbehalt wurde einstimmig abgelehnt. So tippten die Grünen am 13. November 1986 die Pressemitteilung Nummer 746/86 für die Öffentlichkeit: "GRÜNE LEHEN BETEILIGUNG AN PARLAKOM AB."

Bereits einen Monat später schafften sich auch die Grünen ein Wang-System an. In der Pressemitteilung 853/86 verkündete der Grünen-Abgeordnete Jo Müller am 30. Dezember 1986, er habe sich über den Wang-Rechner der Grünen kurz vor Mitternacht "zufällig" in das Wang-System des Konrad-Adenauer-Hauses eingeloggt. Dort habe er im Dateisystem Materialien der CDU gefunden, mit denen die Grünen mit einer Schmutzkampagne diskreditiert werden sollten. Müller, heute Lehrbeauftragter an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, hinterließ einen verschlüsselten Neujahresgruß im Dateisystem, ganz wie dies ein Hacker vom Chaos Computer Club getan hätte.

Der Autor dankt der Heise-Foristin Angelwing, von 1985 bis 1987 bei den Grünen Mitglied des Deutschen Bundestags, für die Einsicht in ihr umfangreiches Material. (vbr)