Hintergrund: "So nicht, ICANN!"

ICANN-Direktor Andy Müller-Maguhn und seine ehemalige Konkurrentin Jeanette Hofmann prangern die Missstände bei der Domain-Namens-Verwaltung an.

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Vieles liegt im Argen bei der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) – das meinen zumindest Andy Müller-Maguhn, frisch gekürter ICANN-Direktor, und Jeanette Hofmann, seine ehemalige Konkurrentin bei der Bewerbung um einen Direktoren-Posten. Die Reform des Domain-Namen-Systems (DNS) erfolge nur halbherzig, der zentralistische Root-Server bleibe nach wie vor unter der Kontrolle der US-Regierung, die durch die Wahl von fünf Verwaltungsratsmitgliedern durch die Internet-Nutzer vorsichtig eingeläutete Demokratisierung der als kalifornische Firma ins Leben gerufenen Organisation werde nicht weiterverfolgt. "Die ganze Kultur bei ICANN ist etwas merkwürdig", rümpft Andy Müller-Maguhn die Nase.

Bestätigt wurde sein bisheriger Eindruck von den Netzarchitekten just von Esther Dyson, der amtierenden Vorsteherin des ICANN-Vorstands, mit der sich Hacker Müller-Maguhn jüngst in Berlin getroffen hatte. Das Gespräch mit der Internet-Lady, die sich selbst als Entscheidungsträgerin bei ICANN nie wirklich wohl gefühlt hatte und sich deshalb von Mitte November an wieder ganz ihrer Tätigkeit als Risikokapitalgeberin widmen will, vermittelte ihm jedenfalls den Eindruck, dass ICANN vor allem von den Interessen der über das Governmental Advisory Council (Gac) im Boot sitzenden Regierungen sowie von Markenrechtsverfechtern und Industrielobbyisten ferngesteuert werde.

Nach seiner eigenen Einschätzung hat Müller-Maguhn von den Wählern, die ihn Anfang Oktober zum ICANN-Direktor kürten, den Auftrag erhalten, diese Zustände zu ändern. Nach seiner provokativen "Regierungs-Erklärung", in der er den "Krawattis" eine klare Absage für eventuelle "Kooperationen" erteilte, diskutierte der 29-Jährige nun gestern Abend auf Einladung des Berliner Vernetzungsvereins mikro mit Jeanette Hofmann über die mit seinem neuen Posten verbundenen Aufgaben und Möglichkeiten.

Dream-Team der unabhängigen Nutzer

Wer ein echtes Streitgespräch zwischen der 40-jährigen Politikwissenschaftlerin und dem aufmüpfigen Hacker und Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) erwartet hatte, wurde von der Talkrunde in Berlins hippem WMF-Club enttäuscht. Schon in der Nominierungsphase der ICANN-Wahl hatten sich beide als Vertreter der Nutzer präsentiert und "Hand in Hand" einen Platz auf der offiziellen Kandidatenliste erstritten. Während des eigentlichen "Wahlkampfs" tauschten die zwei ungleichen ICANN-Streiter aus Berlin zwar ein paar Spitzen aus. Doch seit die Rollen nach der Wahlentscheidung wieder klar verteilt sind, entwickeln sich die beiden momentan zum "Dream-Team" der unabhängigen Netzwelt. Die langjährige Internet-Forscherin Hofmann hat dabei den Beratungs- und Trainingspart übernommen, während der Netzpromi Müller-Maguhn die gemeinsame Botschaft vom "Schutz des Kulturraums Internet" geschickt über alle Medienkanäle hinweg verkauft.

Wenn der frischgebackene ICANN-Direktor beispielsweise die Theorie entwickelt, dass die US-Regierung der Welt durch ICANN nur vorgaukele, dass nicht mehr sie selbst die Macht über die wichtigsten Netzressourcen und die Schaltzentrale des Cyberspace in Händen halte, und dass der hierarchische Aufbau des DNS Ausgeburt eines perfiden Kontrollgebaren der Amis sei, folgt sofort die Rückkoppelung mit seiner leicht den Kopf schüttelnden "Verbündeten". Die erklärte dann, dass die Regeln zur Anerkennung des zentralen Root-Servers "wie so vieles im Netz" schlicht auf Konvention beruhe, auf einem Abkommen, dass die Internetprovider und -betreiber weltweit mit ICANN geschlossen haben. "Die US-Macht ist abhängig vom 'Nicken' der Anderen", stellte Hofmann klar. Ganz so schlimm ist es mit der Verschwörung also doch nicht, auch wenn die Auswirkungen des Kopfnickens ab und zu besorgniserregend sind.

Dot-biz und Co. bringen nichts

Weitgehend einig ist sich das ICANN-Team dagegen, wenn es um die Erweiterung des virtuellen Namenraums geht. Die fünf bis zehn neuen übergeordneten Top Level Domains, die das Direktorium beim nächsten Treffen in Los Angeles Mitte November noch vor der offiziellen Einführung der Vertreter der unabhängigen Mitglieder absegnen will, führen nach Meinung beider nur zu einer Verschärfung der vor allem aus dem .com-Bereich bekannten Markenrechtsprobleme. Würde beispielsweise eine Domain .biz eingeführt, würden dort sofort alle großen Marken ihre Claims abstecken und es würde sich daher nichts an der künstlichen Namensknappheit ändern. Müller-Maguhns Standpunkt ist daher: Erweiterung des DNS ist prima. Aber nur, wenn eine unbeschränkte Zahl neuer Domains eingeführt wird oder bei einer Begrenzung Ausgleichsräume für die nicht-kommerziellen User geschaffen werden, in denen Marken keinen besonderen Schutz genießen.

Hofmann will dem Ansinnen der Markenrechtler, ihre Macht über die einstmals vollkommen öffentlichen Namensressourcen "massiv auszudehnen", sogar mit der Schaffung eines ganz neuen Verzeichnissystems unterlaufen, das wie ein komplexes Branchenbuch aufgebaut sein müsste. Die jetzige Lösung, bei der nur ein Meier.de möglich ist, "skaliert einfach nicht", übt sich die Sozialwissenschaftlerin im Technikerdeutsch. Es sei also unausweichlich, ein System zu schaffen, in dem auch im Netz Sites analog der Beschreibung "der Pizza Hut am Alex in Berlin" eindeutig zu identifizieren seien.

Angst vor Baby-ICANNs

Angesichts der Tatsache, dass ICANN immer häufiger auch die Sperrung einzelner Domains von Gerichten vornehmlich aus den USA aufgezwungen wird und die Netzverwalter aktuell gerade aufgrund einer einstweiligen Verfügung die Handelsplattform für Wählerstimmen Voteauction.com ihrer angestammten Domain sowie dem Behelf Vote-auction.com entbinden mussten, drehte sich die Diskussion auch um die mystische "Weltregierungsfunktion" des Unternehmens ICANN. "Es gibt zunehmend Begehrlichkeiten von Ländern, ihre unterschiedlichen Auffassungen von Meinungsfreiheit mit Hilfe von ICANN durchzusetzen und bestimmte Domains aus dem Root-Server austragen zu lassen", weiß Müller-Maguhn. Die Missbrauchschancen seien in diesem Bereich "ausbaufähig", fürchtet der Hacker.

Hofmann wandte sich in diesem Zusammenhang strikt gegen den immer wieder diskutierten Vorschlag, ICANN auch Entscheidungsbefugnisse über Netzinhalte zuzugestehen. Die Organisation dürfe nur dann Zuständigkeiten entwickeln, wenn wirklich eine zentrale Lösung nötig sei. Die Schaffung eines universalen Rechts für die ganze Welt durch ICANN müsse verhindert werden, um die offline gegebene Vielfalt auch online erhalten zu können. Doch selbst wenn die Ausweitung des Mandats der Netzarchitekturbehörde unterbleibe, befürchtet die Politologin die Entstehung von "Baby-ICANNs", die mit weitreichenden Regulierungsfunktionen ausgestattet sein könnten.

Nicht nur Hot Dogs übers Netz verkaufen

Doch in nächster Zeit wird die Kritik von ICANN selbst im Vordergrund der Tätigkeiten des trauten Paares stehen, das durchaus auch mal gemeinsam Sportaktivitäten zum Entspannen von der Lobby- und Geistesarbeit nachgeht. "Wir machen fast nichts mehr anderes, als 'so nicht' zu schreien", bringt Hofmann, die ähnlich wie Müller-Maguhn auch nach der Wahl noch regelmäßig Journalisten Interviews rund um ICANN gibt, die neue Aufgabe auf den Punkt. Vordringlich sei momentan, die At-large-Mitgliedschaft bei ICANN soweit zu organisieren, das sie ihre Interessen durchsetzen könne. Denn die alte Garde der Organisation würde die neuen Strukturen am liebsten wieder schnellstmöglich abschaffen – was auch das Ausharren der Übergangsdirektoren beweise, die eigentlich weiteren von der Basis gewählten Repräsentanten Platz machen sollten.

Müller-Maguhn hat dagegen andere Vorstellungen über die Rolle des Fußvolks: Er will die At-large-Mitglieder "an allen Prozessen beteiligen". Bleibt abzuwarten, ob der Freak beim ersten Vorstands-Meeting in Los Angeles nicht auf Granit beißen wird. Noch ist der Freigeist allerdings guter Dinge. "Ich werde die Jungs erst einmal darauf hinweisen, dass es Leute gibt, die auch andere Bedürfnisse haben, als nur Hot Dogs übers Internet zu verkaufen", erklärte er den Beifall klatschenden Zuhörern der im WMF. Die meisten bisherigen ICANN-Direktoren hätten von der Idee des öffentlichen Netzraums vermutlich noch gar nichts gehört, würden sie aber bestimmt zu schätzen wissen. Und wenn es doch nichts wird mit dem guten Zureden? "Dann müssen wir etwas Eigenes aufmachen." (Stefan Krempl)/ (chr)