Angriff aufs letzte Tabu

Die Forschung an Embryonen ist in Deutschland aus ethischen Gründen untersagt. Doch der Widerstand bröckelt. Selbst Keimbahntherapien sind nicht mehr undenkbar.

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Von
  • Inge Wünnenberg

In Deutschland liegen mehrere Tausend Embryonen auf Eis. Sie sind einst für eine künstliche Befruchtung gezeugt worden und werden von ihren leiblichen Eltern nun nicht mehr benötigt. Diese schiere Masse an befruchteten Eizellen weckt nun Begehrlichkeiten. Der Deutsche Ethikrat möchte sie zur Adoption freigeben.

Aber ein elfköpfiges Expertengremium der deutschen Leopoldina, einer der ältesten Wissenschaftsakademien der Welt, hat anderes im Sinn: Es fordert, auch hierzulande "verbrauchende" Forschung an Embryonen zu erlauben. Das ist nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz zwar bisher untersagt. Doch das Gesetz stammt von 1990 – angesichts des schnellen wissenschaftlichen Fortschritts also gewissermaßen aus der Steinzeit. Vieles, was heute geht, war damals noch nicht einmal denkbar.

Die japanischen Forscher Mitinori Saitou und Katsuhiko Hayashi haben es 2016 zum Beispiel geschafft, aus normalen Körperzellen, etwa Hautzellen, einen Embryo zu erschaffen – zunächst allerdings nur bei Mäusen. Sollte dies auch bei Menschen gelingen, dürfte das ethische Komplikationen aufwerfen, an welche die Autoren des Embryonenschutzgesetzes wohl nicht einmal im Traum gedacht haben: Kinder könnten nicht mehr nur von Mann und Frau gezeugt werden, sondern auch von gleichgeschlechtlichen Partnern oder gar nur von einem einzigen Menschen.

TR 5/2017

"Wir haben gesehen, wie die Entwicklungen international in diesem Wissenschaftsfeld laufen", sagt Albrecht Müller, Molekularbiologe an der Uni Würzburg und einer der Autoren des Leopoldina-Diskussionspapiers. Vor allem neue Verfahren wie Crispr-Cas9, die das Genom zielgenau editieren können, haben der Embryonenforschung vollkommen neue Dimensionen eröffnet. Und weltweit machen Wissenschaftler davon eifrig Gebrauch.

Stammzellforscherin Kathy Niakan vom Londoner Francis-Crick-Institut etwa erhielt im vorigen Jahr die Erlaubnis, mit Embryonen zu experimentieren. Sie möchte herausfinden, welche Gene schuld an frühen Fehlgeburten sind. Mit einem ähnlichen Programm will Entwicklungsbiologe Fredrik Lanner vom schwedischen Karolinska-Institut mehr über Unfruchtbarkeit erfahren. In China wiederum hat ein Team der Guangzhou Medical University die Genschere bereits in lebensfähigen Embryonen eingesetzt. Dazu hat es Eizellen, die von künstlichen Befruchtungen übrig geblieben sind, mit dem Sperma genetisch kranker Männer befruchtet. Dem Team gelang es, die Gendefekte bei drei von sechs Embryonen per Genome Editing ansatzweise zu behandeln. Ein Team in den USA hat jüngst ebenfalls das CRISPR-Verfahren bei Embryonen angewandt.

Solche Projekte, Erbkrankheiten durch direkte Eingriffe in das Genom zu heilen, sind dank Crispr und ähnlicher Verfahren zu einem rasant wachsenden Forschungsfeld geworden. "In kürzester Zeit sind Varianten entwickelt worden, die praktisch keine Off-Targets mehr haben", sagt Müller. Das bedeutet: Die Genscheren schneiden immer seltener an den falschen Stellen. "Genome Editing wird irgendwann einmal ganz sicher sein", prophezeit der Molekularbiologe. "Wenn diese Forschung relevante Erkenntnisse zeitigen wird, kann ich mir nicht vorstellen, dass diese in Deutschland nicht verwendet werden."

Deshalb fordern er und seine Kollegen, Genome Editing zur Erforschung der menschlichen Embryonalentwicklung zuzulassen und darüber hinaus sogenannte verwaiste, bei künstlichen Befruchtungen übrig gebliebene Embryonen auch hierzulande für diese Zwecke freizugeben. Eine radikale Kehrtwende, denn noch im September 2015 hatten die Leopoldina-Forscher gemeinsam mit anderen deutschen Wissenschaftlern ein abwartendes Statement zu den Chancen und Grenzen der Genscheren abgegeben. Wenig später sprach sich auch die internationale Konferenz der US-amerikanischen National Academies of Sciences (NAS) für ein Moratorium beim Genome Editing aus.

Mit ihrem jetzigen Vorstoß gehen die Leopoldina-Gelehrten über die Zugeständnisse des Stammzellgesetzes von 2002 weit hinaus. Denn hierzulande herrscht eine ethisch inkonsequente Lage, mit der aber offenbar viele der Beteiligten gut leben können: Es dürfen zwar keine humanen embryonalen Stammzelllinien aus menschlichen Embryonen gewonnen werden – aber aus dem Ausland importierte Linien dürfen benutzt werden. "Ich kann keinen Forscher nennen, der sich in der jetzigen Situation, in der keine Keimbahntherapie und keine genetische Manipulation am Embryo möglich ist, in seiner Forschung behindert fühlt", sagt Ricardo Felberbaum, Chefarzt für Frauenheilkunde am Klinikum Kempten. Als Mitglied der Zentralen Ethikkommission für Stammzellenforschung hat er einen guten Überblick über die einschlägigen Forschungsprojekte. Er selbst gehört zu den Wissenschaftlern, die sich für die Adoption der befruchteten Eizellen starkmachen.

Noch umstrittener aber ist die Einlassung der Akademiemitglieder hinsichtlich der sogenannten Keimbahntherapie. Bei der klassischen Gentherapie werden Zellen gezielt verändert und in den Körper des Patienten eingeschleust. Das Risiko betrifft in diesem Fall also nur einen Menschen. Werden Gendefekte allerdings schon bei einem Embryo repariert und dieser ausgetragen, betreffen die Änderungen alle Nachkommen. Eine Anwendung dafür wäre die Muskeldystrophie Duchenne, an deren Behandlung bereits intensiv geforscht wird.

Solche Keimbahntherapien galten bisher als Tabu. Doch dieses bröckelt nun. Sowohl die Leopoldina-Gelehrten als auch Mitglieder der NAS haben sich von einer kategorischen Ablehnung der Keimbahntherapien verabschiedet.

Hinsichtlich der ethisch vertretbaren Änderungen herrscht aber zumindest in einem Punkt Einigkeit: Alle Eingriffe in die Keimbahn dürfen nur schwere, ansonsten unheilbare Krankheiten betreffen. Die genetische Verbesserung des Menschen – sogenannte Designerbabys – lehnen Gelehrte in Europa wie Übersee ab. Doch bisher standen vor diesem letzten Tabu zwei große Hindernisse: Solange eine "verbrauchende" Forschung an menschlichen Embryonen nicht erlaubt ist, dürfte eine Keimbahntherapie nicht infrage kommen. Und solange es keine Keimbahntherapien gibt, braucht man sich über das sogenannte Enhancement, also die Verbesserung der Nachkommenschaft, keine Gedanken zu machen. Fallen die ersten beiden Hürden, bleibt das letzte große Tabu relativ einsam stehen.

(inwu)