Bundestag winkt Zensurgesetz durch

Alexander Joshua Caleb Bryce († 1940): The Censorship (1918)

Während der Generalsekretär des Europarates vor einem "falschen Signal für andere Staaten" warnt, lobt die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker das NetzDG als "Blaupause für andere Länder"

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Heute Vormittag hat der Bundestag mit den Stimmen der SPD und der Mehrheit der CDU- und CSU-Abgeordneten das von Bundesjustizminister Heiko Maas entworfene "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" gegen "Hate Speech" und "Fake News" verabschiedet. Außer einer einzigen Unionspolitikerin stimmten lediglich die Abgeordneten der Linkspartei dagegen - die der Grünen enthielten sich (vgl. Bundestag beschließt Netzwerkdurchsetzungsgesetz).

Tritt das Gesetz nach der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt in Kraft, drohen Betreibern sozialer Netzwerke Bußgelder in Höhe von fünf (und bei "systematischen" Verstößen sogar bis zu fünfzig) Millionen Euro, wenn sie "offensichtlich" rechtswidrige Inhalte nicht innerhalb von 24 Stunden löschen. Bei nicht offensichtlichen gilt eine Frist von sieben Tagen, die nur in Ausnahmefällen verlängert werden soll. In der Kombination aus extrem hohen Bußgeldern, extrem kurzen Fristen und relativ unbestimmten Begriffen sehen Kritiker des Gesetzes einen sehr großen Anreiz, im Zweifel auch rechtmäßige Inhalte zu löschen, wenn sie Regierungspolitikern und ihnen nahestehenden Kreisen nicht gefallen könnten.

Einrichtungen der regulierten Selbstregulierung

Das NetzDG gilt für Netzwerke mit mindestens zwei Millionen Nutzern mit deutscher IP-Nummer. Damit sind nicht nur Facebook und Twitter betroffen, sondern zum Beispiel auch Instagram, wo Roboter die Zensurentscheidungen treffen. "Berufliche Netzwerke" wie Xing, "Verkaufsplattformen" wie Amazon, Spiele wie League of Legends und "Fachportale" sollen ausgenommen sein.

Eine im ursprünglichen Entwurf von Heiko Maas enthaltene Verpflichtung, das Wiedereinstellen gelöschter Inhalte mit Filtern zu unterbinden, findet sich in der verabschiedeten Fassung nicht mehr. Der umstrittene zivilrechtliche Auskunftsanspruch - mit dem zum Beispiel Stalker oder politische Fanatiker an Wohnadressen kommen könnten - wurde dagegen beibehalten, aber unter Richtervorbehalt gestellt. Außerdem hat man die aktuellen Fassung um die Möglichkeit zur bezahlten Delegation der Zensurpflichten an staatlich zugelassene und vom Bundesamt für Justiz überwachte "Einrichtungen der regulierten Selbstregulierung" [sic] erweitert, in denen die Landesmedienanstalten vertreten sein müssen (vgl. YouTube: Werden deutsche Nutzer erneut ausgesperrt?). Das schafft Arbeitsplätze, auf die politiknahe Bewerber wahrscheinlich gute Chancen haben.

Wilhelminisches Selbstbewußtsein

Ob diese Änderungen ausreichen, um eine neue Notifizierungspflicht bei der EU laufen zu lassen, ist unklar, aber eher unwahrscheinlich. Im bisherigen TRIS-Verfahren bei der EU-Kommission nahm unter anderen der Verein Digitale Gesellschaft Stellung, der bemängelt, dass das NetzDG "auch in der heute verabschiedeten Fassung […] das in der E-Commerce-Richtlinie verankerte Herkunftslandprinzip" verletzt, weil "Diensteanbieter aus dem europäischen Ausland in Deutschland grundsätzlich keinen anderen Regeln unterworfen werden dürfen als in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz haben." Der Großteil der gehörten Experten und der wissenschaftliche Dienst des Bundestages waren vorher ebenfalls zum Ergebnis gekommen, dass das NetzDG gegen Europarecht und gegen das deutsche Grundgesetz verstößt (vgl. NetzDG im Rechtsausschuss).

Zuletzt forderte sogar David Kaye, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit, die Bundesregierung zu einer Stellungnahme auf - und Thorbjørn Jaglan, der Generalsekretär des Europarates, warnte vor Zensur und einem "falschen Signal für andere Staaten". Die CDU-Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker, die das NetzDG heute im Bundestag verteidigte, lobte das zumindest europaweit einmalige Gesetz dagegen mit wilhelminischem Selbstbewußtsein als "Blaupause für andere Länder".

Widerstand vor allem von außerhalb des Parlaments

Außer von der Linkspartei, deren Rednerin Petra Sitte eine Privatisierung des Strafrechts bemängelte, kam der Widerstand gegen das NetzDG vor allem von außerhalb des Parlaments: Die FDP-Generalsekretärin Nicola Beer rief gestern alle Abgeordneten dazu auf, gegen das ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Gesetz zu stimmen; Florian Weber, der Vorsitzende der Bayernpartei bezeichnete es auf Twitter sogar als "größten politischen Skandal der jüngeren Zeit"."

Ein bekannter Twitter-Nutzer mit dem Pseudonym "Frank Covfefe" meinte lapidar: "Alles, was ich zu sagen habe, steht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" - und zitierte den dortigen Artikel 19, in dem es heißt "Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten."

Andere Nutzer stellten der Maas-Äußerung "Wer Menschenrechte einschränkt, beschert den Terroristen schon den ersten Sieg" der Netzpolitik.org-Überschrift: "UN-Sonderberichterstatter: Netzwerkdurchsetzungsgesetz verstößt gegen Menschenrechte" gegenüber. Darth Monchichi machte mit Humor auf die offensichtlichste Schwäche des sehr unbestimmten Gesetzes aufmerksam und verlautbarte: "Es ist übrigens Hatespeech, von mir getätigte Äußerungen als Hatespeech zu misgendern. (Für diesen Servicetweet fallen keine Gebühren an.)"

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