Die kritischen vier Sekunden

Vollautonome Autos versprechen uns eine größere Bequemlichkeit. Tatsächlich aber könnte auch das Gegenteil passieren.

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Ein entscheidender Faktor beim autonomen Fahren ist die sogenannte Übergabezeit – also die Frist, in der ein Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug übernehmen muss, wenn sich der Autopilot überfordert fühlt. Nach einem Bericht von 3Sat plant eine Arbeitsgruppe des United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) daran, für Typzulassungen eine Übergabezeit von mindestens vier Sekunden vorzuschreiben.

Dies hätte gravierende Konsequenzen: Wenn der Fahrer nicht innerhalb von vier Sekunden reagiert, muss das Auto „sicher zum Halten“ gebracht werden. In der Praxis dürfte das auch „Mitten auf der Straße“ bedeuten. Die Verantwortung dafür hätte dann vermutlich der Fahrer, weil er nicht schnell genug das Steuer übernommen hat. Und greift er rechtzeitig, aber überhastet ein und baut dabei einen Unfall, dürfte das ebenfalls seine Sache sein – solange der Autopilot den Wagen die besagten vier Sekunden unter Kontrolle hat, ist der Hersteller raus aus der Verantwortung.

Vier Sekunden sind allerdings äußerst knapp. Verkehrspsychologen der TU Braunschweig haben am Fahrsimulator herausgefunden, dass Versuchspersonen – abhängig von ihrer Nebenbeschäftigung – in der Regel sechs bis acht Sekunden brauchen, um das Steuer zu übernehmen. Bis sie sich einen kompletten Überblick über die Verkehrslage einschließlich Blick in den Rückspiegel und auf den Tacho verschafft haben, können 12 bis 15 Sekunden vergehen. Bei Tempo 120 ist ein Wagen währenddessen über 400 Meter weit gefahren. Die Sensoren von autonomen Autos reichen aber nur rund 300 Meter voraus.

Die Konsequenz daraus: Entweder man vertraut darauf, dass es schon gut geht. Das dürfte in der Regel auch der Fall sein. Kommt es aber dennoch zu einem Crash, dürfte man sehr gute Anwälte brauchen. Oder man nimmt die Vier-Sekunden-Regel ernst. Das bedeutet: Keine Videos schauen, nicht texten, und schon gar nicht dösen oder schlafen. Erschwerend kommt hinzu, dass es deutlich ermüdender ist, ein selbstfahrendes Auto zu überwachen als selbst zu fahren. Das haben ebenfalls die Braunschweiger Verkehrsforscher ermittelt. Warum genau sollte man dann noch einen Autopiloten haben wollen?

Hierin zeigt sich die Tücke der bisher von den Herstellern favorisierten evolutionären Entwicklung, bei der schrittweise immer mehr Features dazukommen, bis der Fahrer gar nichts mehr zu tun braucht. Dabei muss offenbar eine Art „uncanny valley“ durchschritten werden, wo die Technik schon ziemlich gut ist, aber eben noch nicht gut genug.

Der andere Ansatz wäre es, die ganzen Zwischenphasen zu überspringen und gleich ein Auto ohne Lenkrad und Pedale zu bauen. Hier wäre der Fahrer – wie in einer Aufzugskabine – jeder Einflussmöglichkeit und somit auch jeder Verantwortung enthoben. Auch dabei geht es natürlich nicht ohne jede Evolution. Allerdings bestünde sie nicht darin, dass der Fahrer schrittweise Verantwortung abgibt, sondern darin, dass sich das vollautonome Auto schrittweise in höhere Geschwindigkeiten und komplexere Umgebungen vorwagt. Diesen Ansatz hat Google verfolgt und Ende 2016 offenbar wieder beerdigt. Er ist auch noch in den autonomen Mini-Bussen zu sehen. Es wäre schade, wenn solche Ansätze nicht weiterverfolgt würden und die ganze Branche irgendwann geschlossen auf die Feature-Evolution umschwenkt. (grh)