Die Rattenfänger aus dem Silicon Valley

Experten warnen: Mit ausgeklügelten psychologischen Tricks verwandeln soziale Netze insbesondere Teenager in sozial isolierte, einsame, depressive Smartphone-Abhängige. Ist tatsächlich eine ganze Generation in Gefahr?

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Dieser Artikel-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft 02/2018 ist ab dem 25.01.2018 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Jean Twenge macht sich Sorgen. Die Psychologin von der San Diego State University erforscht seit mehr als 20 Jahren Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen. Nun fürchtet sie um das Wohl einer ganzen Generation, die im wahrsten Sinne des Wortes dem Smartphone zum Opfer fallen könnte.

Ja, dem Smartphone. Nicht der wachsenden Gewalt auf amerikanischen Straßen, nicht dem zunehmenden Autoverkehr und auch nicht der Schmerzmittel-Epidemie, die gerade über die USA hinwegfegt, sondern dem Computer in ihrer Hosentasche. In einem Aufsatz, der im November 2017 in der Fachzeitschrift „Psychological Science“ erschienen ist, zeichnet Twenge gemeinsam mit Kollegen der San Diego State University und der Florida State University ein dramatisches Bild: Zwischen 2010 und 2015 sei die Selbstmordrate von Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren um 65 Prozent gestiegen. Die Zahl der Mädchen, die Symptome der Selbstmordgefährdung zeigen – über Selbsttötung nachdenken, sie konkret planen oder versucht haben, sich umzubringen – ist um 12 Prozent gestiegen. Gleichzeitig habe die Zeit, die Teenager zwischen 2010 und 2015 pro Tag in sozialen Netzen verbringen, rapide zugenommen. Diese Tatsache „könnte für den Zuwachs an Selbstmorden und depressiven Symptomen verantwortlich sein“ schreiben die Autoren – vorsichtig – in dem Paper. Denn andere mögliche Ursachen wie die wirtschaftliche Lage und die Entwicklung der Arbeitslosigkeit zeigten keine zeitliche Korrelation.

Weniger diplomatisch war Twenge in ihrem kurz zuvor herausgegebenen Buch „iGen“. Der Untertitel könnte kaum deutlicher sein: „Why Today’s Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy and Completely Unprepared for Adulthood – and What That Means for the Rest of Us“ (im Mai erscheint eine deutsche Ausgabe). „Was geschah 2012, um solch dramatische Verhaltensänderungen herbeizuführen?“, schreibt sie. „Es war nach der Großen Rezession, die offiziell von 2007 bis 2009 dauerte und einen starken Einfluss auf die Generation der Millennials hatte, die versuchen musste, ihren Platz in einer stotternden Wirtschaft zu finden. Aber es war genau der Moment, als der Anteil der Amerikaner, die ein Smartphone besaßen, 50 Prozent überstieg.“

Die Generation der zwischen 1995 und 2012 geborenen Kinder, die „iGen“, wuchs als erste komplett mit Smartphones und sozialen Netzen auf. Sie kennen kein Leben ohne diese Kommunikationsmittel. Doch obwohl diese Heranwachsenden Tag und Nacht mit Freunden digital verbunden sind, sieht Twenge eine „einsame, dislozierte Generation“ heranwachsen. Teenager, die jeden Tag Social-Networking-Sites besuchen, aber ihre Freunde immer seltener persönlich sehen, stimmen in Umfragen immer öfter Aussagen zu wie: „Oft fühle ich mich einsam“, „Ich fühle mich oft ausgeschlossen“ und „Ich wünsche mir oft, dass ich mehr gute Freunde hätte“.

Wenn Twenge mit ihrer Diagnose recht hat, dann ist die Entwicklung in der Tat bedenklich. Denn das Gefühl, allein zu sein, ist nicht nur unangenehm, sondern auch ziemlich ungesund: Eine schlechte Qualität der sozialen Beziehungen erhöht die Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes um 26 Prozent. Zu diesem Schluss kam John Cacioppo von der University of Chicago im Jahr 2010 nach einer Meta-Analyse von fast 150 Studien. Das Gesundheitsrisiko von Einsamkeit sei damit vergleichbar mit chronischer Fettleibigkeit oder Rauchen, so Cacioppo.

(wst)