Expertenstreit um "feste Verdrahtung" von Mathematik im menschlichen Gehirn

Besitzen Menschen einen angeborenen Sinn für Mathematik, der bei manchen schwächer ausgeprägt ist als bei anderen? Experten liefern sich darüber einen heftigen, wissenschaftlichen Streit.

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Gehirn, Schädel
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Der Tübinger Hirnforscher Andreas Nieder ist davon überzeugt, dass sich Rechenschwäche bei Kindern mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie diagnostizieren lässt. „Erst neurobiologische Untersuchungen konnten überhaupt zeigen, dass die sogenannte Dyskalkulie wirklich eine Erkrankung ist“, erklärte Nieder gegenüber Technology Review. „In bestimmten Hirnregionen, die für das Zahlenverständnis zuständig sind, findet man bei Betroffenen weniger Nervenzellen.“

In seinen Forschungen sucht Nieder nach Indizien dafür, dass der Sinn für Mathematik sich evolutionär entwickelt hat. Bei seinen Experimenten mit Rhesusaffen – die übrigens nach einer Operation mit Betäubung völlig schmerzfrei verlaufen – konnte er für die Zahlen von 0 bis 30 jeweils eine „Lieblingsnervenzelle“ identifizieren, deren Aktivität bei einer bestimmten Zahl am höchsten war. Was ziemlich klar für eine „Verdrahtung“ von Zahlen im Gehirn spricht – auch über die Vier hinaus.

Für Fähigkeiten wie Zählen oder den Vergleich von Mengen besitzt das Gehirn spezialisierte Regionen. „Diese Vorgänge spielen sich im Präfrontalen Kortex und im Intraparietalen Sulcus ab“, berichtet Nieder. Es sind die gleichen Orte, in denen Forscher auch Hirnaktivität bei der Beschäftigung mit höherer Mathematik nachgewiesen haben. Für ihn folgt daraus, dass mathematisches Verständnis ein Produkt der Evolution ist – ein universelles Werkzeug, das Lebewesen hilft, in ihrer Umwelt zurechtzukommen.

TR 03/2018

Die These ist allerdings Gegenstand einer heftigen wissenschaftliche Debatte. Der Kognitionspsychologe Rafael Núñez von der Universität von Kalifornien in San Diego hält dagegen: Für ihn ist der abstrakte Umgang mit Zahlen kein Produkt der Evolution, sondern eine vorwiegend kulturell erworbene Fähigkeit. Núñez kontert mit Bildern aus der funktionellen Magnetresonanztomografie, die Chinesen und Engländer beim Rechnen mit arabischen Zahlen zeigen. Dabei sind unterschiedliche Hirnareale aktiv – aufgrund kultureller Unterschiede beim Schreiben und Lernen, wie die Arbeitsgruppe um Yiyuan Tang von der chinesischen Akademie der Wissenschaften folgert. (wst)