Pandemie als Simulationsspiel

In Washington trafen sich Gesundheitsexperten, um herauszufinden, wie sich große Krankheitswellen aufhalten lassen. Gefahr droht auch von der synthetischen Biologie.

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Von
  • Antonio Regalado
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Im Juni 2001 setzte sich eine Gruppe von US-Regierungsvertretern und Journalisten zusammen, um ein sogenanntes Germ Game durchzuspielen, ein fiktionales Szenario, bei dem eine (damals noch vielen Menschen unbekannte) Terrorgruppe namens Al Qaeda in amerikanischen Einkaufszentren das Pockenvirus freisetzte.

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Die Übung, Dark Winter genannt, hatte großen Einfluss auf die Politik der Pandemiebereitschaft in den kommenden Jahren. So wurde unter anderem beschlossen, Impfstoffe anzukaufen und einzulagern, ausreichend Krankenhauskapazitäten zu schaffen und Notfallpläne aufzustellen, um auf globale Krankheitsausbrüche vorbereitet zu sein, die es vielleicht niemals geben wird.

Dark Winter, das zwischenzeitlich auch in Schulen und den Länderkammern der US-Bundesstaaten durchgespielt wurde, war erfolgreich, weil es sich als vorausschauend erwies. Nur drei Monate nach der Übung wurden die USA am 11. September angegriffen und plötzlich kursierten Briefe mit Milzbranderregern im US-Postsystem (obwohl letztere angeblich von einem US-Militärforscher und nicht von ausländischen Terroristen stammten).

In der Politik kam die Botschaft an. Mittlerweile halten die USA genug Pockenimpfungen für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind des Landes auf Vorrat. Auch Milzbrandmedikamente sind ausreichend vorhanden.

Seit 2001 hat sich viel verändert. Mitte Mai 2018 trafen sich nun einige der Originalteilnehmer von Dark Winter zu einer neuen Pandemieübung in Washington. Sie hieß "CladeX" und fand in einem Nobelhotel statt. Um 9 Uhr morgens ging es los. Ahnungsvolle Musik erklang im Ballsaal und die Lichter wurden um einen U-förmigen Tisch gedimmt, an dem ein fiktives Kabinett seine Plätze eingenommen hatte. Als Mitspieler dabei waren unter anderem der frühere Senatschef Tom Daschle (die Rolle hatte er schon einmal), die frühere Chefin des Center for Disease Control and Prevention (CDC), Julie Gerberding, sowie Tara O'Toole, die Autorin des Dark-Winter-Szenarios.

Die Aufgabe der Gruppe: Eine Antwort auf einen fiktiven Krankheitsausbruch zu finden. Das Szenario: Ein Virus tötet Dutzende in Frankfurt am Main. Es breitet sich dann nach Venezuela aus, wo der Präsident des Landes das Problem aber unter den Teppich kehrt. Das Virus verbreitet sich schnell und besitzt eine hohe Mortalität. Die Chefs am Tisch müssen sich schnell entscheiden, ob sie die Flughäfen schließen (sie tun es nicht) oder Venezuela Hilfe leisten sollen (das machen sie). Auch müssen Maßnahmen ergriffen werden, die Öffentlichkeit zu beruhigen und die Verbreitung von Paranoia und Fake News in sozialen Medien verhindert werden.

Zunächst muss allerdings erst einmal herausgefunden werden, wer der Feind eigentlich ist. Jonathan Quick, ein Arzt, der CladeX besucht hat und Autor des Buches "The End of Epidemics" ist, meint, dass drei von fünf neuen Krankheiten "aus dem Busch oder vom Bauernhof" kämen. Ergo: Wie Ebola oder SARS schaffen sie den Sprung von Tieren zum Menschen. Die Mitspieler bei CladeX dachten anfangs auch, dass es eine Zoonose sein könnte. Dann zeigte sich aber, dass der Erreger in keine bekannte Virenfamilie passte. Könnte es sich also um eine menschengemachte Krankheit handeln?

Dem war dann auch so. Jemand hatte ein zumeist harmloses Parainfluenza-Virus so verändert, dass es zum Killer wird. Dahinter steckte beim Germ Game eine fiktionale Gruppierung namens "A Brighter Dawn", eine Organisation, die die Philosophie vertritt, dass (viel) weniger Menschen auf dem Planeten der Erde gut tun würde. Deshalb will sie die Population auf das vorindustrielle Niveau "absenken" – mit Hilfe des Virus.

Das Szenario stammte diesmal von Eric Toner, einem Notfallmediziner und Pandemie-Experten am Johns Hopkins University's Center for Health Security. Die Einrichtung war auch Sponsor der Übung. Toner forschte intensiv, um ein plausibles Szenario zu entwickeln, das auf echten virologischen und epidemiologischen Modellen basiert. Das Ergebnis war so realistisch, dass die Organisatoren sich dafür entschieden, nicht alle Details offenzulegen. "Aus einleuchtenden Gründen", sagt Toner, "man braucht dafür nämlich keine staatliche Stelle".

Das dürfte eine der großen Veränderungen seit 2001 sein. Seither ist die Gentechnik deutlich einfacher geworden und es gibt mächtige Werkzeuge wie CRISPR, an die vergleichsweise leicht heranzukommen ist. "Das Faszinierende daran ist, dass die Technik früher ganz weit oben war", so Scott Lillibridge, früher Chef des Bioterrorismus-Programms des CDC. "In den Neunzigern dachten wir an Staaten, die angreifen, an Viren im Tiefkühlfach." Heute, 20 Jahre später, bedeute der Aufstieg der synthetischen Biologie, dass es keine großen Investitionen mehr brauche. "Die Sachen sind billig und leicht erhältlich."

Und in der Vergangenheit reichte es zudem aus, auf bekannte Impfungen für bekannte Erreger zu setzen – Pocken, Polio, Milzbrand. Heute könnte ein Angreifer neue Gefahren schaffen, die auf keiner Liste stehen. Microsoft-Gründer Bill Gates fürchtet sich bereits davor. Er sagte in diesem Jahr: "Die nächste Pandemie könnte vom Bildschirm eines Terroristen stammen."

Ausbruchsformen wie Zika zeigen, dass die Forschung aber auch dabei helfen kann, schneller zu reagieren. Im Toner-Szenario dauert es nur Tage, bis das fiktionale CladeX-Virus sequenziert wurde und sein genetischer Code offen liegt. Forscher und Impfhersteller können einen gezielten Angriff wagen. "Wir werden besser", sagt Lillibridge. Die Diskussion werden zwar komplexer, doch auch die Möglichkeit, sich auf zentrale Probleme zu konzentrieren seien größer.

Die Organisatoren des Germ Game, die ihre Empfehlungen im Vorfeld formuliert hatten, wiederholten die bekannten Rufe nach einer besseren Koordination zwischen den Behörden und eine verbesserte öffentliche Gesundheitsinfrastruktur in den Entwicklungsländern. Sie forderten die Vereinten Nationen und andere Organisationen allerdings auch gleichzeitig dazu auf, die risikoreichsten Experimente, die in der Forschung derzeit laufen, stärker zu kontrollieren. Dazu gehört etwa die Schaffung von Viren mittels der synthetischen Biologie. Die Überwachung sei notwendig, da nur wenige Länder in der Welt explizit eingestanden hätten, dass sich ein neues Pandemierisiko durch die wissenschaftlichen Forschung und die Anwendung neuer biotechnologischer Werkzeuge ergibt.

Die USA sollten, so die Empfehlung, mehr in schnelle, papierbasierte Diagnostikwerkzeuge stecken – genauso wie in die Entwicklung verbesserte Herstellungssysteme für Impfstoffe, die in Monaten neue Therapien finden und nicht in Jahren. All dies sei nicht weit entfernt, so Germ-Game-Erfinderung Tara O'Toole. "Wir haben die Kapazität, technisch wie gesellschaftlich, um uns zu verteidigen." Zunächst müsse aber erst einmal verstanden werden, dass die Gefahr real sei und die Politik erkennen, was getan werden könnte. "Das wird Geld kosten, aber keine unmöglichen Summen."

CladeX hat allerdings kein Happy End. Wie in den meisten derartigen Simulationen gibt es viele Tote. Zum Schluss der Übung sind mehrere zehn Millionen Menschen tot, ein erster Impfstoff funktionierte nicht und die Weltbörsen sind um 90 Prozent gefallen. Der US-Präsident ist selbst krank gewesen und das Land wird gezwungen, das Gesundheitssystem zu verstaatlichen. Auf die Frage, ob CladeX derart vorausschauend wie Dark Winter sein könnte, hatte O'Toole nur eine Antwort: "Ich hoffe nicht."

(bsc)