Minnie Finnie

Klassiker: Mercedes 230 W 110

Für eine vollformatige Übernahme der Leitwerke an den US-Kreuzern war man sich in der aufstrebenden Bundesrepublik zu nüchtern. Dennoch genügte die Heckansicht, dem Daimler-Benz-Oberklassemodell seinen einzigartigen Namen zu verleihen: Heckflosse

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Mercedes 230 W 110 23 Bilder
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Stefan Grundhoff
Inhaltsverzeichnis

Mehr als jedes andere deutsche Auto orientierte sich die Baureihe W 110 mit ihren Formen an Vorbildern amerikanischer Straßenkreuzer. Für eine vollformatige Übernahme der Leitwerke an den US-Kreuzern war man sich in der aufstrebenden Bundesrepublik aber zu nüchtern. Dennoch genügte die Heckansicht, dem Oberklassemodell seinen einzigartigen Namen zu verleihen: Heckflosse.

In Europa machte sich der W 110 in erster Linie als Taxi einen Namen. Die Versionen 190 D und 200 D waren mit ihren gerade einmal 40 kW / 55 PS echte Wanderdünen und konnten nicht einmal einem VW Käfer ernsthaft davonfahren. Die Taxifahrer landauf und landab liebten ihre „kleine” Heckflosse jedoch wegen des üppigen Platzangebots und der unerschütterlichen Langlebigkeit. Aus der Erinnerung der Taxler ist die Heckflosse mittlerweile weitgehend vom kaum dynamischeren Dauerläufer Strich-Acht verdrängt, der ab 1968 die Taxiflotten zu dominieren begann.

Passive Sicherheit mit Knautschzonen

Doch der Nachfolger des barocken Ponton-Mercedes machte sich nicht nur wegen seines Designs, sondern insbesondere wegen seiner Sicherheitsausstattung einen Namen. So war der W 110 eines der ersten Fahrzeuge mit einer verstärkten Fahrgastzelle und entsprechenden Knautschbereichen. Das gute Platzangebot stammt nicht zuletzt von der engen Verwandtschaft zu den größeren Schwestermodellen der Baureihe W 111 / W 112, die bereits seit Ende der 50er Jahre angeboten wurden.

Zu einer Anspielung auf ernsthafte Flossen, wie man sie von Autos wie einem Chevrolet Bel Air oder einem Plymouth Belvedere kannte, genügten die beiden etwas kräftiger herausmodellierten Kofferraumkanten. Daher überrascht es im Rückblick, dass die Heckflosse vom Daimler in den 60er-Jahren angesichts der dortigen Designopulenz überhaupt in die USA exportiert wurde. Aber schon damals gab es in den USA offenbar genügend Kunden, die „Substance over Style” schätzten.

In seiner 230er-Topversion machte sich die 4,73 Meter lange Limousine auch einen Namen in den USA. Der Mercedes 230 wird im Gegensatz zu den meist dieselbetriebenen Vierzylindern europäischer Auslieferung von einem Reihensechszylinder des Typs M180 angetrieben, der in seiner neueren Ausbaustufe 88 kW / 120 PS leistet und den nur 1,4 Tonnen wiegenden Viertürer auf Wunsch immerhin bis zu 175 km/h schnell macht.

Kräftig und wirtschaftlich

Seinerzeit kostete der Vorzeige-Mercedes in den USA rund 4500 Dollar – deutlich mehr als die meisten seiner amerikanischen Vorbilder. Und das trotz geringerer Zylinderzahl, kleineren Hubraums und geringerer Leistung. Trotzdem zieht der Klassiker mit seinen 178 Nm maximalem Drehmoment auch heute noch munter steile Anstiege hinauf. Angenehm zurückhaltend zeigt sich Minnie Finnie – so der amerikanische Spitzname – an der Zapfsäule. Mit kaum mehr als zehn Litern lässt sich der Schwabenpfeil auf 100 Kilometern fahren. Die US-Wettbewerbsmodelle schluckten auch mal das Doppelte.

Auf den amerikanischen Highways ist man mit dem Sechszylinder auch heute noch flott unterwegs. Vor allem, wenn keine Wandlerautomatik – auf Wunsch beim W 110 verfügbar – den 2,3-Liter-Motor lähmt. Als Alternative zur serienmäßigen, eleganten Viergang-Lenkradschaltung ließ sich ab Mitte der 60er Jahre auch ein Schalthebel am Mitteltunnel bestellen. Das galt damals als die sportlichere Variante.