Alle Mann von Bord

In der Deutschen Bucht erproben Entwickler ferngesteuerte und autonome Schiffe. Eine Testfahrt vor Wilhelmshaven.

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Alle Mann von Bord

(Bild: Kongsberg)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Peter Ringel

Im Jade-Weser-Port hieven nebelumhüllte Containerbrücken eine Blechbox nach der anderen aus der "Manila Maersk". Touristen bestaunen den rund 400 Meter langen Frachter von der Backbordreling eines Ausflugsdampfers aus. Und verpassen dabei steuerbords einen Blick auf die Seefahrt der Zukunft: Mitten im Fahrwasser sind zwei Schiffe auf Kollisionskurs – die "Senckenberg" und die "Zuse". Auf den digitalen Seekarten in den Cockpits leuchtet ein rotes X auf. Es markiert die Stelle für das Manöver des letzten Augenblicks. Arne Lamm am Steuerrad der "Zuse" nutzt sie zum Abdrehen. Das Motorboot rauscht knapp am Forschungskutter vorbei. Der Informatiker mit Sportbootführerschein pustet erleichtert durch, auch wenn er heute schon zum dritten Mal geradewegs auf den 30-Meter-Kutter zuhalten musste. Mit dem Manöver testet er ein neues Assistenzsystem, das Kollisionen vermeiden soll. Diese Technik braucht es auch, wenn ein Autopilot oder ein Kapitän an Land das Kommando übernimmt. Künftig könnten Schiffe vom Kutter bis zum Frachter ohne Steuermann unterwegs sein.

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"Ziel ist das autonom fahrende Schiff", sagt Axel Hahn vom Oldenburger Institut für Informatik Offis, das die Software mitentwickelt. Zumindest auf der Brücke soll es keine menschliche Interaktion mehr brauchen. Zu den Projektpartnern gehört neben dem Marineausrüster Raytheon Anschütz auch Airbus. Ein Grund sind sinkende Personalkosten. Sie können bei Containerschiffen deutscher Reeder mehr als 40 Prozent der gesamten Betriebskosten betragen. Das eigentliche Argument aber ist die Sicherheit: Laut einer Allianz-Studie gehen mehr als drei Viertel aller Seeunfälle auf Menschen zurück. Die Hauptursachen sieht die Studie in hohem Wettbewerbsdruck und Müdigkeit.

Dass es ohne Steuermann geht, hat die "Zuse" mit ihrer quasi autonomen Jungfernfahrt von Wilhelmshaven nach Cuxhaven bereits im September 2017 bewiesen. Hinter einer Bodenluke in der engen Kajüte verbirgt sich ein Raspberry Pi, der auf die Hydraulik des Ruders und den Gashebel zugreift. Legt man zwei Schalter unter dem Steuerrad um, lässt sich das Boot per Autopilot oder von Land aus steuern.

Die Verbindung läuft per LTE und UKW über sogenannte Navibox-Stationen in Cuxhaven, Brunsbüttel und Wilhelmshaven. Bemannt war das Forschungsboot damals nur aus rechtlichen Gründen.

Doch das maschinelle Kurshalten ist nicht das eigentlich Anspruchsvolle. Frachter nutzen das Verfahren auf ihrem Weg über die Ozeane bereits seit Langem. Schwieriger ist es, auch bei Wind und Wellen ein exaktes maritimes Lagebild zu bekommen. Aktuelle Kollisionswarnsysteme rechnen lediglich Position, Tempo und Kurs anderer Schiffe linear weiter. Das führt oft zu Fehlalarmen, wenn etwa der angebliche Kollisionspunkt außerhalb des Fahrwassers oder gar an Land liegt. "An Bord schalten die Nautiker diese Systeme oft ab", sagt Lamm.

Deshalb testen die Forscher nun gezielt kritische Situationen, unter anderem eben jenes Manöver, das die Kollision mit der "Senckenberg" verhindern soll. Die Software berücksichtigt dabei auch vorangegangene Schiffsbewegungen, Verkehrsregeln, geplante Routen, Manövrierfähigkeit sowie Wind, Strömung und Wellen. Zudem gleicht sie die zeitlichen Abweichungen von Radarsignalen, Differenzial-GPS und Funk aus. Den Verkehr verfolgt sie mit einem 360-Grad-Laserscanner.

Als Ergebnis der Berechnungen erscheint auf der Seekarte im Inneren der Kajüte ein sicherer Kurs und – je nach Gefahr – blinkende grüne, orange oder rote Symbole. Vorbild ist das Traffic Collision Avoidance System (TCAS) aus dem Luftverkehr.

Sind die Software und Sensoren bei sich begegnenden Schiffen an Bord, warnen diese nicht nur, sondern handeln auch untereinander einen sicheren Kurs aus. Auf beiden Seiten müssen Menschen die von den Algorithmen vorgeschlagenen Manöver nur noch bestätigen. Das soll Missverständnisse vermeiden.

Um die Software zu trainieren, füttern die Oldenburger Informatiker sie unter anderem mit Daten aller Schiffsbewegungen in der Deutschen Bucht aus den vergangenen drei Jahren. 52 kritische Situationen haben sie identifiziert. Weitere werden in Simulationen konstruiert. Die entscheidende Frage ist, so Hahn: "Mit wie viel Szenarien und Daten aus realen Verkehren muss ich ein System füttern, bis es genug gelernt hat?" Dies lässt sich nur durch ausgiebige Tests beantworten, denn die künstliche Intelligenz ist eine Blackbox. "Nicht einmal die Programmierer wissen, wie die Software lernt", sagt Hahn.

Welche weiteren Fallstricke in der Praxis auftauchen können, zeigt sich vor Wilhelmshaven. Als der Forschungskutter direkt auf die "Zuse" zuhält, stellt ein Programmierer von Raytheon Anschütz nüchtern fest: "Die ,Senckenberg' ist weg." Ist sie wegen Netzproblemen vom Bildschirm verschwunden? Oder durch einen Wackler an der UKW-Antenne?

Erst im letzten Moment erscheint der Kutter wieder auf der digitalen Karte. Im Forschungsmodus und bei guter Sicht ist das kein großes Problem. Im realen Betrieb hingegen, nachts im Orkan, wären solche Kinderkrankheiten verhängnisvoll.

"Wenn die Maschine überfordert ist, muss ein Mensch eingreifen können", sagt Informatikprofessor Hahn. Wenn also die Sensoren etwas orten, das nicht ins Schema passt, soll ein Nautiker das Ruder übernehmen. Er muss nicht notwendigerweise an Bord sein, sondern kann sich auch im Keller des Offis-Instituts in Oldenburg oder auf einer mobilen Brücke in Norwegen befinden. Die dazu nötige Ausrüstung passt in drei Koffer. Auf drei Bildschirmen sieht der externe Steuermann dann Seekarte, Radarbilder und Maschinendaten, als wäre er selbst auf der Brücke. Dass dies prinzipiell funktioniert, haben Tests bereits gezeigt.

Gelingt der Sprung von der Forschung in die Praxis, wären die Kosten überschaubar: Bei der Navigationstechnik auf dem Schiff rechnet Hahn mit Kosten zwischen 150.000 und 300.000 Euro, der gleiche Betrag falle für die Brücke an Land an.

Tatsächlich machen sich erste Firmen bereits an eine kommerzielle Nutzung. Mit Ankündigungen am weitesten vorgewagt hat sich der Schiffsausrüster Kongsberg. Ab 2020 will er ein elektrisches Containerschiff namens "Yara Birkeland" zwischen zwei Häfen entlang der norwegischen Küste pendeln lassen – zunächst bemannt, dann ferngesteuert und ab 2022 autonom. Ihr Bau soll allerdings erst in diesem November beginnen. Weitere Anwendungen sieht Hahn bei Versorgungsschiffen von Inseln und Windparks oder bei Hilfsbooten, welche die Leinen großer Pötte festmachen.

Auf dem offenen Meer hingegen dürften autonome Schiffe noch lange nicht zu finden sein. Als der Marineausrüster Navtor seine Kommunikationsbox auf der "Zuse" in der Deutschen Bucht testete, wurde deutlich: Sicher ist allenfalls eine Kombination von Satelliten und Mobilfunknetz. Die gibt es aber nur in Küstengewässern. "Auf dem offenen Ozean ist eine sichere Verbindung selbst zu einem Satelliten nicht immer gegeben", sagt Bjørn Åge Hjøllo, Projektleiter bei Navtor.

Zudem könnte niemand rasch an Bord kommen, wenn etwas schiefgeht. Im Vergleich dazu sind nötige neue Richtlinien von Gremien wie der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) eine Kleinigkeit. Sie schreiben derzeit vor, dass Schiffe anderen in Not helfen müssen. Wie aber soll dies ein unbemannter Frachter tun?

(bsc)