Ist Scham an der Zapfsäule normal?

Klartext: Gutes schlechtes Gewissen

Viele Autofahrer schämen sich, wenn sie an der Tankstelle Benzin oder gar den verteufelten Diesel kaufen. Die Scham gehört zum gesunden menschlichen Sozialverhalten. Der Autofahrer ist also normal. Die Politik dagegen könnte mehr Schamreaktion zeigen

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Vielen, vielen Dank für Ihre zahlreichen Zuschriften zur Zukunft der individuellen Mobilität. Die darin hervortretende Grundhaltung und vorgeschlagenen Ideen bestätigen mein Bild, dass dem Autofahrer eben nicht alles egal ist, sondern er sich durchaus mit seiner Mobilität beschäftigt. Aus dem Fundus großartiger Gedanken möchte ich gleich einen herausgreifen: Vielleicht ist es ganz gut, dass Menschen wie vergangene Woche beschrieben ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ein großes Auto volltanken. Dazu müssen wir ein Stück das tun, was ich am liebsten tue: abschweifen.

Nackte Brüste im Grasrock

Das schlechte Gewissen an der Tankstelle gehört zu den Scham-Reaktionen. Die Scham fordert implizite oder explizite Verhaltensregeln menschlicher Gruppen ein. Deshalb lernt sie der Mensch als Reaktion auf sozial unerwünschtes Verhalten. Unterschiedliche Kulturen schämen sich also auf unterschiedliche Weise.

Unvergessen die Seefahrer in der Zeit europäischer Welterkundung, als sie auf die freien Brüste der Pazifikdamen starrten. Daheim galt die freie Brust als schamhaft, ja: gilt das bis heute. Dort war es anders, was die Europäer zur irrigen Idee verleitete, dass es in der Südsee weniger oder gar keine Scham gebe. Es gab sie aber zuhauf, weil das innige Inselleben auch klare Sozialregeln fordert. Sie betraf lediglich andere Dinge als dem Europäer gewohnt. Eine erwachsene Frau in Mikronesien trug zum Beispiel einen knöchellangen Grasrock. Weniger war beschämend.

Verhaltensforscher vermuten, dass die Scham einerseits die sozialen Regeln der Gruppe durchsetzt, weil sie uns unangenehm ist, andererseits aber in sich die bereits intern erfolgte Bestrafung durch Körperreaktionen wie die Schamesröte signalisiert: „Mea culpa, es tut mir schon leid, mehr Sanktion brauchen wir nicht.“ Im Zuge der modernen, auf den einzelnen zentrierten Welt schoben verschiedene, egozentrische Bewegungen die Scham zu den schlechten, unerwünschten Gefühlen, die wir am besten aus dem Leben eliminieren.

Da gehört sie jedoch nicht hin. Scham gehört zum gesunden Sozialverhalten, und wer sich gelegentlich schämt, den stufen die Mitmenschen als sympathischer, großzügiger und vertrauenswürdiger ein. Erst die krankhaft überzogene Scham sollte behandelt werden, wie es für alle krankhaft überzogenen Auswüchse gilt. Ist Scham an der Tankstelle im Jahr 2019 also normal?

Ich glaube schon. Aktuelle Gesellschaftsthemen drehen sich viel um den Einfluss des Menschen auf seinen Lebensraum, der folgenden Generationen erhalten bleiben soll. Das Gefühl, diesen aktuellen Gruppenströmungen entgegen zu handeln, erzeugt Scham. Ein Autofahrer, der sich für den täglich verteufelten Diesel schämt, den er kauft, zeigt also a) ein normales Sozialverhalten und b) die Zugehörigkeit zur Hauptströmung der Gesellschaft, die den Diesel nicht mehr mag. Beides sind Zeichen eines gesunden Seelenlebens. Sie bemerken allerdings: Punkt b) ist optional. Es gibt heutzutage immer auch andere Gruppen mit anderen Werten. Coal Rolling macht dich im Hinterland von Alabama bei deinen Kumpels vielleicht beliebter, obwohl sie dich dafür in Stuttgart lynchen werden.

Nicht einmal der Troll ist immun

Ich stelle die These auf, dass sich niemand einer Mehrheitsmeinung komplett entziehen kann, wenn er sie mitbekommt. Ich weiß das aus meiner Arbeit als professioneller Troll gut. Prinzipiell sollte es mir egal sein, wenn sich ein Leser ärgert, denn das gehört ja zur Zielsetzung, wenn jemand polarisieren will. Ist es aber nicht. Die ganze mentale Hornhaut aus Jahrzehnten des Trollens reicht nicht. Wir können das noch extremer zuspitzen: Selbst der krankhafte Soziopath reagiert auf die sozialen Eingaben seines menschlichen Umfelds.