Kolumne: Innovation? Innovation! Über Pioniere, Siedler und Städtebauer

Innovationskultur in Unternehmen - eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wie es in der Praxis aussieht, beleuchtet Rolf Scheuch in seiner Innovationskolumne.

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VUCA

Wir leben in einer VUCA-Welt, geprägt von volatility uncertainty complexity, ambiguity

(Bild: Svetlana Lukienko / shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Rolf Scheuch
Inhaltsverzeichnis

Die Innovationskultur im Unternehmen ist das Fundament der Innovationsfähigkeit. Als spezifische Ausprägung der Unternehmenskultur umfasst sie alle Werte und Denkhaltungen, die das Verhalten der am Innovationsprozess Beteiligten prägen und an denen sich diese orientieren. Klar, eigentlich nichts Neues. Aber wie sieht das im Tagesbetrieb aus?

Eine Kolumne von Rolf Scheuch

Seit 1982 ist Rolf Scheuch (Mitbegründer von Opitz Consulting) in der IT tätig. Heute arbeitet er als Management-Coach, Referent und Autor. Schwerpunkt ist die veränderte Rolle der IT durch die Digitalisierung mit den spezifischen Themen Agilität, Rightsourcing und Innovationsfähigkeit der IT. Das Motto des Mathematikers ist "When in doubt simplify" und damit bewertet er Pragmatismus immer höher als theoretische Konstrukte.

Im letzten Jahr standen wir vor der Aufgabe, im Verbund mit anderen innovativen Unternehmen eine "Erlebniswelt" für einen zukünftigen Produktions-Shopfloor eines Anlagenbauers zu präsentieren. Die Präsentation wurde mit einem "Erlebnistag" verbunden, an dem das weltweit verteilte Top-Management des Unternehmens zu einem echten physischen Rundgang als Werker auf dem Shopfloor der Produktionshalle eingeladen werden sollte. Wie fühlt man sich als Werker in der Zukunft mit künstlicher Intelligenz, virtuellen Realität und Kommunikation mit Maschinen?

Die physische und virtueller Welt sollte haptisch erlebbar sein und die beginnende Verschmelzung von Mensch und Maschine demonstriert werden. Etwa der Akku-Schrauber, der sich meldet, wenn er nicht in seiner Lade-Station abgelegt wurde. Neben neuen, teils futuristischen Industrierobotern war das kontext-abhängige Arbeiten mit modernen technologischen Ansätzen Teil dieser Erlebniswelt.

Keine Frage, dass dies nur ein Prototyp werden konnte: Bei einem Blick in die Zukunft werden schließlich oft noch nicht ausgereifte Technologien verwendet. Unser Ziel war in dem Fall tatsächlich nicht das Produkt, sondern wir wollten Impulse zur Innovationsbereitschaft anstoßen und die Möglichkeiten von Technologie erlebbar machen. Für diesen Showcase bestand unsere Kernaufgabe in der Implementation einer digitalen Plattform mit einem API-Management.

Nach dieser Einleitung: Jetzt geht die eigentliche Geschichte los. Für diesen anspruchsvollen Prototyp zogen wir erfahrene Architekten zusammen – die Integrations-Creme-de-la-Creme. Die Aufgabe war, einen funktionsfähigen Prototyp zu erstellen, aber kein Produkt oder MVP (Minimal Viable product). Die Ergebnisse durften nachher in dem Müll wandern.

Diese Ambiguität der Aufgabe (die Funktionsfähigkeit einerseits und das "Arbeiten für die Tonne" anderseits) überforderten unsere Architekten. Es fehlte eindeutig die Ambiguitätstoleranz. Schnell erkannten wir das Over-Engineering und damit die Gefahr, die sportlichen Zeitvorstellungen nicht halten zu können. Nur wenige Wochen Zeit mit einem harten Anschlag! Wir mussten zügig umdisponieren und bildeten das Team neu.

Das neue Team nutzte bestehende, oft nicht ganz passende Komponenten und "stöpselte" auf die Schnelle eine Lösung zusammen. Es war das Grauen für erfahrene Softwareingenieure, aber mehr als ausreichend für den Tag. Insbesondere konnten wir einen API-First-Ansatz der anderen Projektbeteiligten mitgehen und stetig neue oder veränderte Lösungen auf die Plattform ziehen (Stichworte: DevOps, Container-Technologie).

Ich möchte nun nicht näher auf die spannenden Technologien eingehen, sondern auf Charaktereigenschaften, Mindset und Ambiguitätstoleranz des Einzelnen wie auch des Projektteams zu sprechen kommen. Dafür möchte ich das PST-Modell von Simon Wardley und Robert X. Cringely vorstellen (Cringely, R.: Accidental Empires: How the Boys of Silicon Valley Make Their Millions, Battle Foreign Competition and Still Can’t Get a Date. New York 1992). Es liefert einen hilfreichen Denkrahmen für eine realistische Erwartungshaltung bei der Besetzung von Teams liefert. Das PST-Modell unterscheidet drei Arten von Verhaltensweisen und damit Typen: Pioniere (Pioneers), Siedler (Settlers) und Städteplaner (Town Planners).

  • Pioniere lieben es, visionär nach neuen Ideen und nach neuen Chancen zu suchen. Sie finden und verproben Ideen und versuchen, neue, bislang unbekannte Konzepte aufzustellen. Pioniere haben häufig Misserfolge und akzeptieren diese als Schritte in der Schaffung von etwas Neuem, sie lernen schnell. Das Unbekannte reizt. Sie kommen gut mit chaotischen, unstrukturierten Vorgehensweisen klar. Pioniere sind ideal zur Ideation und zur Erstellung von Proofs of Concept und ersten Prototypen.
  • Siedler greifen Ideen auf und bauen aus halbfertigen Konzepten und Gedanken eine Erfindung bzw. einen Piloten. Sie sind in der Lage, MVPs, erste lebensfähige Produkte, zu erstellen. Siedler gehen in einen Dialog mit internen und externen Stakeholdern und nutzen dieses Feedback flexibel zur Verbesserung des Konzepts und eines Prototyps. Sie arbeiten gerne in kurzen, inkrementell-iterativen Zyklen. Sie überführen Ideen in ein erstes, marktfähiges Produkt, aber nicht weiter. Siedler sind ideal für die Invention.
  • Städteplaner industrialisieren ein erstes Produkt und optimieren die Produktion. Sie entwickeln Services und sichern die Nutzbarkeit des Produkts für die Zukunft. Sie arbeiten strukturiert und sind ideal dafür geeignet, ein erfolgreiches Produkt für eine erfolgreiche Innovation zu schaffen. Sie führen die Innovationsphase in die nachgelagerte wirtschaftliche Blütezeit, die Exploitation der Innovation.

Diese drei Typen von Verhaltensmustern entsprechen keinen Persönlichkeitstypen oder gar einem Menschenbild. Im Extremfall könnte sich eine Person sogar in unterschiedlichen Situationen wie ein Pionier, ein Siedler oder ein Städtebauer verhalten. Leider viel zu selten! Jedoch hat jeder Mensch Präferenzen im Verhalten aufgrund seiner Charaktereigenschaften und Stärken sowie auf Basis seiner (Lebens-)Erfahrungen. Wie lässt sich dies nun für die Innovation nutzen?

Unsere Innovationsprozesse und unsere Innovationskultur zielen darauf ab, die richtigen Rahmenbedingungen für Menschen zu schaffen, die in komplexen Situationen die richtigen Fragen stellen und die aufgeworfenen Problemstellungen kreativ lösen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als gelungene Kommunikation sowie unterstützende Verhaltensweisen von Einzelnen oder Gruppen im sozialen System.

Um eine Leitlinie zu haben, arbeite ich gerne mit den folgenden, die Wirklichkeit sehr vereinfachenden, Formeln:

  • Je eher Ideation und somit neue Ideen gefragt sind, so versuche ich eine ausreichende Anzahl von Pionieren ins Team zu nehmen. Dies passt gut zum explorativen Arbeiten in Innovation Hubs oder Open Innovation Szenarien oder explorativen Data-Analytics-Fragestellungen.
  • Je eher die Invention und das "Bauen" eines Prototyps, die Erfindung, im Mittelpunkt steht, so setze ich auf Menschen, die ein Siedler-Gen besitzen. Dies passt eher zu einer Labor-Welt mit schon recht klaren Aufgaben und der Suche nach Lösungen.
  • Und je eher es um eine Produktifizierung geht, so muss der "klassische" Ingenieur ins Lead, um Qualität, Robustheit und operativer Nutzen zu sichern.

Allzu häufig wird übersehen, dass der Schlüssel zur Innovationskultur – und damit auch zu Innovationsprozessen, wie auch immer sie gestaltet sein mögen – die Fähigkeit und Bereitschaft zur stetigen und falls nötig auch tiefgreifenden Veränderung ist. Und zwar einer Veränderung des gesamten Unternehmens, einzelner Bereiche, Gruppen oder Teams sowie der Menschen darin.

Innovation braucht Veränderungskultur, aber nicht zwingend umgekehrt. Diese Changeability, andere sprechen auch von Ambiguitätstoleranz, ist eine innere Haltung, ein Mindset. Diese Haltung ist erlernbar.

In Zeiten, in denen wir in einer VUCA-Welt (volatility uncertainty complexity, ambiguity) leben, gilt es, schneller als das Umfeld zu reagieren sowie Veränderungsmut und Zuversicht auch angesichts von Ungewissheit und manchmal überwältigender Komplexität auszuprägen. In dieser Welt zählt nicht ein perfekt durchdachter Plan, sondern die Fähigkeit, auf Überraschungen schnell zu reagieren und zu improvisieren. Dieses spannende Thema werde ich in einer der nächsten Kolumnen vertiefen. (jk)