Exodus aus Südosteuropa – Länder verlieren Kampf um kluge Köpfe

Hunderttausende Südosteuropäer haben ihre Heimat in Richtung Westeuropa verlassen. Firmen investieren nicht, weil Personal fehlt – Deutschland profitiert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 104 Kommentare lesen
Exodus aus Südosteuropa - Länder verlieren Kampf um kluge Köpfe

(Bild: giggsy25 / shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Kathrin Lauer
  • Elena Lalowa
  • Gregor Mayer
  • dpa
Inhaltsverzeichnis

"Wir sind eine im Verschwinden begriffene Nation." So beklagt Marian Hanganu, Chef der rumänischen Headhunting-Firma Colorful, auf seiner Homepage die Massenauswanderung aus einem der ärmsten EU-Länder. "Das Resultat ist, dass viele multinationale Unternehmen entschieden haben, nicht mehr in Rumänien zu investieren, weil es einfach kein Personal gibt." Ähnlich sieht es im Nachbarland Bulgarien aus: "Die Wirtschaft beginnt, Verträge und neue Aufträge abzusagen, da es an Arbeitskräften fehlt", so Wirtschaftsminister Emil Karanikolow in einem bulgarischen TV-Sender.

Fachkräftemangel

Viele Menschen aus Südosteuropa zieht es in Länder wie Deutschland, Italien und Spanien. Die Löhne in ihrer Heimat steigen zwar, aber nur gering. Unternehmer, Experten und Politiker von Budapest bis Athen sorgen sich. Gerade die für den Arbeitsmarkt attraktiven jungen, gut ausgebildeten Menschen wandern ab. Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden.

Mehr als zwei Millionen Rumänen leben nach Schätzung der Regierung in Bukarest im Ausland, die meisten in Spanien und Italien. Der Exodus in der Nachbarschaft war ähnlich: Mehr als 700.000 Bulgaren haben nach offiziellen Angaben im EU-Ausland ein neues Zuhause. Aus Kroatien wanderten laut einer Studie (PDF-Datei) der Nationalbank (NHB) in Zagreb allein von 2013 bis 2016 insgesamt 230.000 Bürger ins EU-Ausland aus. Es entspricht einer Auswanderungsrate von zwei Prozent der Bevölkerung pro Jahr. Griechenland kehrten seit Ausbruch der schweren Finanzkrise 2010 nach Schätzungen der Gewerkschaften mindestens 400.000 überwiegend junge Menschen den Rücken.

Mehr Infos

Die Bundesregierung will bis zu 80.000 Euro zahlen, um Fachkräfte etwa für Informationstechnik zu gewinnen. Für BSI und Zitis stehen Zulagen an.

heise jobs – der IT-Stellenmarkt

Zu Arbeitsplätzen und Stellenangeboten in der IT-Branche siehe auch den Stellenmarkt auf heise online:

Sogar in Ungarn, das bislang als eines der am besten entwickelten Länder der Region galt, setzte nach der globalen Krise 2008 eine Emigrationswelle ein, die sich nach 2010 sprunghaft verstärkte, wie die Budapester Soziologin Agnes Hars in einer Studie feststellte. Allein zwischen 2010 und 2017 hätten mehr als 200.000 Ungarn zwischen 20 und 65 Jahren das Land verlassen – die Dynamik sei die höchste in allen neuen EU-Beitrittsländern gewesen. Seit 2010 ist der nationalistische Politiker Victor Orbán Ministerpräsident von Ungarn.

Für Cristina Mihu war die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, leicht. Sie hatte in der Schule in Deva in der rumänischen Provinz Transsylvanien Deutsch als zweite Fremdsprache gelernt. Während des anschließenden Medizin-Studiums in Temeswar finanzierten ihre Eltern drei Praktika in Kliniken in Italien, Spanien und in Heidelberg. "Ich wollte international Erfahrungen sammeln", sagt die 32-jährige Fachärztin für Innere Medizin am Klinikum Nürnberg. Seit sechs Jahren ist sie in Franken. Die in Rumänien auch im Gesundheitswesen verbreitete Korruption war neben dem besseren Verdienst ein Grund für ihre Auswanderung. "Das hat mich schon gestört, auch wenn es früher schlimmer war", sagt sie.

In Südosteuropa hingegen ist der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal allgegenwärtig: In der ungarischen Kleinstadt Szolnok musste die Station für Infektionskrankheiten deswegen vorübergehend geschlossen werden. Das Kreiskrankenhaus der rumänischen Donaudelta-Stadt Tulcea hat seit neuestem keine Anästhesisten mehr, weil von den drei ursprünglich vorhandenen zwei gekündigt haben und einer selbst krank geworden ist.

Rumänische Unternehmer versuchen wegen des Engpasses sogar, Personal aus dem Fernen Osten anzulocken. Die Regierung hat für dieses Jahr ein Kontingent von 20.000 Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern festgelegt. Das Kontingent ist aber aus Sicht des Headhunters Hanganu nur ein "Tropfen auf den heißen Stein". Mindestens 300.000 Arbeitskräfte fehlten in Rumänien.

Die Zusammenarbeit mit Gastarbeitern aus Fernost scheitere oft, weil etliche von ihnen das Klima und die Kost in Rumänien nicht vertrügen, sagt Andreea Tartacan, Mitarbeiterin von Hanganu, der dpa. "Jetzt versuchen wir, zumindest für den Bausektor Arbeiter aus Tadschikistan anzuwerben. Sie sind wahrscheinlich körperlich robuster als die Vietnamesen, weil die Tadschiken aus der Steppe kommen", meint die Expertin. Auch Bulgarien beschäftigt Gastarbeiter, wenn auch nicht aus dem ganz so fernen Osten wie in Rumänien: In den Badeorten am Schwarzen Meer kommen die Kellner und Zimmermädchen auch aus der Ukraine, Weißrussland und Moldau.

Mehr Infos

In Deutschland wird die Zuwanderung erleichtert. Mit einem reformierten "Datenaustauschverbesserungsgesetz" sollen Flüchtlinge schärfer überwacht werden.

Die westliche Politik scheint die Abwanderung anzuheizen: Im bitterarmen Kosovo hat jüngst der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn eine Schule besucht, in der Pflegekräfte aus dem Land für Deutschland ausgebildet werden. Auch die als Vorzeige-Gymnasium geltende Deutsche Schule im kosovarischen Prizren gilt als Vehikel zur Auswanderung. Bis zu 30 Abiturienten pro Jahrgang wird ein Ausbildungsvertrag in Deutschland angeboten. Kaum einer von ihnen ist nach der Ausbildung je zurückgekehrt.

Aus Sicht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg profitiert Deutschland von den Zuwanderern aus Südosteuropa. "Sie sind meist jung, die Beschäftigungsquote ist annähernd vergleichbar mit der der Deutschen", sagt IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker. In diversen Branchen wie Bau, Pflege und Gastronomie würde es ohne diese Kräfte eng, da sich kaum deutsche Bewerber fänden. "Da findet kein Verdrängungswettbewerb statt", meint Brücker. (tiw)