Hoffnung für Frühchen?

Extremfrühchen haben trotz intensivmedizinischer Versorgung nur schlechte Chancen zu überleben. Forscher wollen Brutkästen durch Inkubatoren ersetzen, in denen die Babys wie in einer Gebärmutter schwimmen.

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Hoffnung für Frühchen?

(Bild: Photo by Hush Naidoo on Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Christian Honey

Das jüngste Frühchen Deutschlands kam im November 2010 in Fulda zur Welt. Mit ihren 21 Wochen und fünf Tagen wog die kleine Frieda 460 Gramm und war ­gerade einmal 26 Zentimeter groß. Ihre Chancen zu überleben standen schlecht, die Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sieht "keine reellen Möglichkeiten", ein Frühchen vor der 22. Schwangerschaftswoche am Leben zu halten. Doch Frieda schaffte es – und ist damit die absolute Ausnahme.

Damit auch andere diese Chance bekommen, wollen Forscher der RWTH Aachen und der Technischen Universität Eindhoven (TUE) ein System entwickeln, in dem "Extremfrühchen" diese kritischen Wochen besser überstehen: eine künstliche Gebärmutter. Gefördert wird das Projekt mit 2,9 Millionen Euro durch das EU-Programm Horizon 2020.

Laut dem Bundesverband Das frühgeborene Kind e.V. kommen in Deutschland jedes Jahr rund 3500 Kinder mit einem Gewicht von unter 1000 Gramm zur Welt. Bei solchen Extremfrühchen sind die Organe nicht bereit für den Kontakt mit der Außenwelt: Die Lunge nimmt bei der künstlichen Beatmung Schaden, der Darm ist nicht bereit für die Bakterien, die ihn mit der künstlichen Ernährung besiedeln, und das Nervensystem neigt zu Blutungen. Die Überlebenschancen vor der 22. Woche liegen bei weniger als fünf Prozent, sagt eine im "The New England Journal of Medicine" veröffentlichte Studie von 2008.

TR 12/2019

Die Forscher aus Aachen und Eindhoven stellen sich statt der bislang eingesetzten Brutkästen einen übergroßen Medizinball als Inkubator vor. Darin sollen Frühchen, in künstlichem Fruchtwasser schwebend und von einer künst­lichen Plazenta über die Nabelschnur mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, die kritischen ersten Wochen überstehen. Das System soll den Zustand des Babys überwachen, etwa Herzfrequenz und Sauerstoffversorgung, aber auch Hirn- und Muskelaktivität messen. Computermodelle simulieren den Zustand des Babys und helfen Ärzten so bei der Entscheidungsfindung.

"Unser Ziel ist es, Schritt für Schritt alle technologischen Hürden aus dem Weg zu schaffen", sagt Frans van de Vosse, Leiter der Forschungsgruppe Kardiovaskuläre Biomechanik an der TUE und Koordinator des Projekts. Hürden gibt es viele: Unklar ist etwa, wie die künstliche Plazenta aufgebaut sein muss, ob die Kraft des kindlichen Herzens reicht oder eine Pumpe nötig ist, ob die Nabelschnur den geeig­neten Zugang zum Kreislauf bietet oder doch eine andere ­Variante besser ist – und natürlich, wie die Kinder aus der Gebärmutter der Mutter in die künstliche überführt werden können. Dabei sollen Computermodelle und lebensnahe Puppen helfen. "Im Rahmen des aktuellen Projekts werden wir jedenfalls keine Versuche an Menschen oder Tieren durchführen."

Die Idee, Föten in einem künstlichen Inkubator heranwachsen zu lassen, scheint vermessen. Das Ziel ist aber keineswegs so unerreichbar, wie es klingt. 2017 berichtete eine Forschergruppe vom Children's Hospital of Philadelphia im Fachmagazin "Nature Communications" von ihrem "Biosack": Frühgeborene Lämmer schwebten in einer Flüssigkeit und wurden über die eigene Nabelschnur von einer künst­lichen Plazenta versorgt. Nach vier Wochen brachen die Wissenschaftler das Experiment planmäßig ab. Aber bis dahin entwickelten sich die Lämmer prächtig: Ihr Kreislauf blieb stabil, Blutsauerstoff- und CO2-Werte waren normal. Sie nahmen zu, ihre Lungen reiften, ihr Hirn hatte Normalgewicht und isolierte Nervenfasern.

Nach etwas mehr als zwei Wochen im Biosack war den Lämmern Wolle gewachsen, sie öffneten die Augen und begannen zu strampeln. Ermutigend für die Forschungen an der künstlichen Gebärmutter ist, dass die Lämmer zum Zeitpunkt des Transfers vom Mutterschaf in den Biosack etwa so weit entwickelt gewesen waren wie mensch­liche Frühchen in der noch sehr kritischen 23. Woche. Deren Überlebenschancen liegen zwischen der 22. und 24. Woche gerade einmal bei 36 Prozent, und etwa die Hälfte der über­lebenden Kinder hat später neurologische Entwicklungsstörungen. Erst ab der 24. Schwangerschaftswoche steigen die Chancen auf ein gesundes Überleben auf über 90 Prozent.

Vom Biosack für Lämmer bis zu einer künstlichen Gebärmutter sieht Christoph Bührer von der Klinik für Neonatologie der Charité Universitätsmedizin Berlin noch einen weiten Weg. "Wir arbeiten bei Operationen an Neugeborenen ja ­heute schon zum Beispiel mit Herz-Lungen-Maschinen", sagt Bührer. "Das Problem dabei ist immer, dass das Blut durch Schläuche und über Membranen fließt, an denen sich leicht Gerinnsel bilden."

Aus diesem Grund müssten beim Einsatz von Herz-Lungen-Maschinen immer Gerinnungshemmer eingesetzt werden. Sonst lösen sich die Gerinnsel irgendwann, gelangen in den kindlichen Kreislauf und können dort dann Gefäße in Herz, Lunge oder Gehirn verstopfen, mit manchmal tödlichen Folgen. Setze man Föten jedoch über mehrere Tage Blutverdünnern aus, steige das Risiko einer ­inneren Blutung stark an. Was fehle, sagt Bührer, seien ­Oberflächenmaterialien für Schläuche und Gastauscher, die Gerinnsel in einer künst­lichen Plazenta verhindern.

Auch van de Vosse hält die Blutgerinnung für die größte Hürde auf dem Weg zur künstlichen Plazenta. Mit der Modell-Gebärmutter habe man nun aber die Gelegenheit, neue Materialien und alternative Gerinnungshemmer systematisch durchzutesten. Wann das erste Frühchen in einer künstlichen Gebärmutter reifen wird? Das kann niemand sagen. Wenn es aber einmal so weit ist, dürften Geschichten wie die von Frieda zur Regel werden.

(bsc)