Assange: UN-Folterexperte wirft Behörden "konstruierte Vergewaltigung" vor

UN-Sonderberichterstatter Melzer klagt über massive Rechtsbeugung im Fall Julian Assange. Das Ganze sei ein Skandal, die Pressefreiheit stehe auf dem Spiel.

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Assange: UN-Folterexperte wirft Behörden "konstruierte Vergewaltigung" vor

(Bild: Londisland/Shutterstock.com)

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Eine konstruierte Vergewaltigung, manipulierte Beweise, befangene Richter – der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, sieht in der Causa Julian Assange ein "mörderisches System" am Werk, um mit einem Schauprozess an dem Wikileaks-Gründer ein Exempel zu statuieren und andere Journalisten einzuschüchtern.

Das wirklich Erschreckende an diesem Fall ist für den Schweizer Rechtsprofessor "der rechtsfreie Raum, der sich entwickelt hat: Mächtige können straflos über Leichen gehen, und aus Journalismus wird Spionage. Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen."

Melzer hat im Interview mit dem Schweizer Magazin "Republik" erstmals Details seiner Erkenntnisse über die Vorverurteilung und Verhaftung Assanges publik gemacht. Er kommt zum Schluss: "Vier demokratische Staaten schließen sich zusammen, USA, Ecuador, Schweden und Großbritannien, um mit ihrer geballten Macht aus einem Mann ein Monster zu machen, damit man ihn nachher auf dem Scheiterhaufen verbrennen kann." Es handle sich um einen "Riesenskandal und die Bankrotterklärung der westlichen Rechtsstaatlichkeit".

Für den Experten für humanitäres Völkerrecht ist das Vorgehen der Behörden gegenüber dem Politaktivisten unerhört und unvergleichbar. "Jeder kann gegen jeden eine Voruntersuchung auslösen, indem er zur Polizei geht und die andere Person beschuldigt", geht er auf einen "Klassiker in der Manipulation der öffentlichen Meinung" ein, mit dem der Australier ins Scheinwerferlicht geriet. "Die schwedischen Behörden wiederum waren an der Aussage von Assange nie interessiert. Sie ließen ihn ganz gezielt ständig in der Schwebe. Stellen Sie sich vor, Sie werden neuneinhalb Jahre lang von einem ganzen Staatsapparat und von den Medien mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert, können sich aber nicht verteidigen, weil es gar nie zur Anklage kommt."

Medien und Behörden zeichneten in den vergangenen Jahren ein Bild, wonach Assange vor der schwedischen Justiz geflüchtet sei, um sich der Verantwortung zu entziehen. "Das dachte ich auch immer, bis ich zu recherchieren begann", geht Melzer darauf ein. "Das Gegenteil ist der Fall. Assange hat sich mehrfach bei den schwedischen Behörden gemeldet, weil er zu den Vorwürfen Stellung nehmen wollte. Die Behörden wiegelten ab."

Polizei und Staatsanwaltschaft in Schweden haben Aussagen zweier Frauen, die Assange nach einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zu einem Aids-Test bringen wollten, Melzer zufolge umgedeutet und falsche Verdächtigungen der Presse gesteckt. "Ich spreche fließend Schwedisch und konnte deshalb alle Originaldokumente lesen", erläutert der Rechtswissenschaftler "Ich traute meinen Augen nicht: Nach Aussagen der betroffenen Frau selber hat es nie eine Vergewaltigung gegeben. Und nicht nur das: Die Aussage dieser Frau wurde im Nachhinein ohne ihre Mitwirkung von der Stockholmer Polizei umgeschrieben, um irgendwie einen Vergewaltigungsverdacht herbeibiegen zu können. Mir liegen die Dokumente alle vor, die Mails, die SMS."

Schweden sei es "nie um Wahrheitsfindung" gegangen, konstatiert der Uno-Folterexperte. Die von Assange unter anderem angebotene Vernehmung per Video sei "in jenem Zeitraum zwischen Schweden und England in 44 anderen Verfahren so gemacht" worden. Nur bei dem Hacker habe es geheißen, dass er persönlich erscheinen müsse. Melzer kann sich das nur so erklären: "Man wollte ihn in die Finger kriegen, um ihn an die USA ausliefern zu können."

Was sich in dem skandinavischen Land im Rahmen einer strafrechtlichen Voruntersuchung binnen weniger Wochen an Rechtsbrüchen akkumuliert habe, ist laut dem Juristen "absolut grotesk". Die Engländer, namentlich der Crown Prosecution Service, hätten die Schweden zugleich "unbedingt davon abhalten" wollen, das Verfahren einzustellen. Dies sei erst geschehen, nachdem am 11. November ein offizielles Schreiben von ihm veröffentlicht worden sei, in dem er die schwedische Regierung erfolglos aufgefordert habe, "in rund 50 Punkten die Vereinbarkeit ihrer Verfahrensführung mit den Menschenrechten zu erklären".

"Ständig passieren in diesem Fall Dinge, die eigentlich gar nicht möglich sind, außer man ändert den Betrachtungswinkel", hat Melzer registriert. Stein des Anstoßes sei gewesen, dass Wikileaks "die politischen Eliten in den USA, England, Frankreich und Russland gleichermaßen" bedroht habe. Über die Plattform seien permanent geheime staatliche Informationen geleakt worden, und das in einer Welt, in der auch in sogenannten "reifen Demokratien die Geheimhaltung überhandgenommen hat" und dieser Schritt "als fundamentale Bedrohung wahrgenommen" werde.

Im Fall der Afghanistan-Dokumente oder des Videos "Collateral Murder" aus dem jüngsten Irak-Krieg würde ein Rechtsstaat laut Melzer möglicherweise gegen die Whistleblowerin Chelsea Manning ermitteln wegen Amtsgeheimnisverletzung. "Er würde aber sicher nicht Assange verfolgen, denn dieser hat das Video im öffentlichen Interesse publiziert, im Sinne des klassischen investigativen Journalismus." Vor allem hätten aber die eigentlichen Kriegsverbrecher verfolgt und bestraft werden müssen.

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Das "wirklich Erschreckende" ist für den Beobachter so "der rechtsfreie Raum, der sich entwickelt hat: Mächtige können straflos über Leichen gehen, und aus Journalismus wird Spionage. Es wird ein Verbrechen, die Wahrheit zu sagen." Klar sei derweil, dass Assange bei der drohenden Auslieferung an die USA "kein rechtsstaatliches Verfahren bekommen" werde. Sollte der "psychologisch" Gefolterte verurteilt werden, wäre dies "ein Todesurteil für die Pressefreiheit". Melzer warnt vor den allgemeinen Folgen: "Plötzlich kann das, was heute immer nur den anderen passiert – ungesühnte Folter, Vergewaltigung, Vertreibung und Ermordung – ebenso gut auch uns oder unseren Kindern passieren." Wie der Berichterstatter forderte vorige Woche auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, den Inhaftierten sofort freizulassen. (tiw)