Immunität bei SARS-CoV-2: Einmalige Infektion oder saisonale Super-Grippe?

Forscher untersuchen die Möglichkeit mehrmaliger Ansteckung mit dem neuen Coronavirus. Schlimmstenfalls könnte es Jahr für Jahr mit vielen Toten wiederkommen.

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Gäbe es ein Medikament gegen COVID-19, wäre uns schon viel geholfen.

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Von Herbst 2016 bis ins Jahr 2018 hinein sammelten Forscher der Columbia University in New York Nasen-Abstriche von 191 Kindern, Lehrern und Notfall-Personal; alle Teilnehmer sollten außerdem aufzeichnen, wann sie niesen mussten oder Halsschmerzen hatten. Ziel der Studie war, eine Landkarte von verbreiteten Atemwegserkrankungen und ihrer Symptome zu erstellen – und herauszufinden, wie lange Betroffene nach einer Krankheit immun bleiben.

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Die Studie umfasste die vier Coronaviren HKU1, NL63, OC42 und C229E, die jedes Jahr weite Verbreitung finden, aber nicht viel Aufmerksamkeit, weil sie nur normale Erkältungen verursachen. Doch nachdem jetzt mit SARS-CoV-2 ein neuartiges Virus aus derselben erweiterten Familie die Welt in eine Krise gestürzt hat, sollen die milden Verwandten Hinweise dazu liefern, wie sich die Pandemie entwickeln könnte.

Was die Forscher in einer vorläufigen Version ihres Berichts schreiben, klingt beunruhigend. Demnach kam es zu häufigen Re-Infektionen mit demselben Coronavirus, sogar innerhalb desselben Jahres und manchmal mehrfach. Im Verlauf von 18 Monaten wurde ein Dutzend Teilnehmer zwei- oder dreimal positiv auf dasselbe Virus getestet; in einem Fall lagen nur vier Wochen zwischen den Diagnosen.

Das ist ein deutlich anderes Bild als bei Infektionen beispielsweise mit Masern oder Windpocken, bei denen man erwarten kann, anschließend ein Leben lang immun zu sein. Bei den untersuchten Coronaviren dagegen "schien die Immunität schnell zu schwinden", sagt Jeffrey Shaman, der die Studie zusammen mit der Doktorandin Marta Galanti begleitet hat.

Ob es auch bei SARS-CoV-2 so aussieht, ist noch unbekannt. Aber die Ergebnisse der Universität lassen befürchten, dass ein Teil der öffentlichen Diskussion über die Pandemie in die Irre führt. Viel wird vom "Überschreiten des Höhepunkts" und "Immun-Pässen" für Personen gesprochen, die schon erkrankt waren. Gleichzeitig wird gehofft, dass die Infektion weiter verbreitet ist als nachgewiesen – nur eine vertretbar hohe Zahl an Todesfällen soll zwischen der aktuellen Situation und genügend Herden-Immunität stehen, die das Virus stoppen würde.

All dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Immunität von Dauer ist. Was aber, wenn sie bald wieder endet?

"Niemand will es mir glauben, aber ich sage es trotzdem jedem, und es stimmt: Wir bekommen Coronaviren jeden Winter, obwohl wir serokonvertiert sind", sagt Matthew Frieman, der sich an der University of Maryland mit der Viren-Familie beschäftigt. Die meisten Menschen haben also schon Antikörper gegen sie entwickelt, fangen sich die Viren aber trotzdem wieder ein. "Wir wissen noch nicht richtig, ob sich die Viren mit der Zeit verändern oder ob Antikörper nicht vor einer Infektion damit schützen", sagt Frieman.

Derzeit befinden wir uns in der pandemischen Phase, in der ein neues Virus, gegen das Menschen noch völlig ungeschützt sind, um den Planeten rast. Und tatsächlich ist die Menschheit ein freies Feld für SARS-CoV-2. Anfang der ersten Mai-Woche gab es rund 3,5 Millionen bestätigte Fälle, also etwa einen pro 2.200 Erden-Bewohner (die wahre Infektionszahl dürfte höher liegen, aber trotzdem nur einen kleinen Anteil der Bevölkerung ausmachen). Bis ein Impfstoff verfügbar sei, solle sich die Welt auf "eine neue Art zu leben" einstellen, sagte vor kurzem Takeshi Kasai, Regionaldirektor der WHO für die Region Westpazifik.

Mit Blick auf die Zukunft werden Maßnahmen wie soziale Distanzierung oder Verzicht auf Flüge vielleicht nicht der wichtigste Faktor für unser Schicksal sein: Laut manchen Forschern wird die letztliche Zahl der Corona-Opfer entscheidend davon abhängen, ob man gegen das Virus immun werden kann und für wie lange.

Frühe Daten sprechen für einen zumindest vorübergehenden Schutz gegen eine Neuinfektion. Seit den ersten Fällen in China im Dezember gab es keine eindeutigen Belege für eine nochmalige Infektion bei einer Person. Zwar wurden einige Betroffene ein zweites Mal positiv getestet, doch das könnte durch Testfehler oder Viren-Reste in ihrem Körper erklärbar sein.

"Viele Leute waren infiziert und haben überlebt. Sie laufen jetzt herum und scheinen sich nicht neu zu infizieren oder andere Personen anzustecken", sagt Mark Davis, Forscher an der Stanford University. Anfang Mai waren nach Daten der Johns Hopkins University gut 1,1 Millionen Menschen nach einer Covid-19-Infektion wieder genesen.

Forscher in China haben zudem getestet, wie Makaken-Affen auf einen zweiten Kontakt mit dem neuen Coronavirus reagierten. Sie infizierten die Tiere mit dem Virus und versuchten es vier Wochen später nach deren Genesung erneut. Beim zweiten Mal entwickelten die Affen keine Symptome, und in ihrem Hals waren keine Viren zu finden.

Unbekannt ist aber, wie lang die Immunität anhält – nur fünf Monate nach dem Ausbruch lässt sich das unmöglich sagen. Wenn wir lebenslang immun blieben, würde jeder Überlebende neu zu einem dauerhaften Bollwerk gegen die Verbreitung des Erregers beitragen. Bei kurzer Immunität wie bei anderen Coronaviren aber könnte sich SARS-CoV-2 zu einer saisonalen Super-Grippe mit hoher Sterblichkeitsrate entwickeln, die Winter nach Winter in hässlichen Wellen wiederkehrt.

Die neuesten Modelle zu der Pandemie bestätigen, dass die Dauer der Immunität ein wichtiger Faktor sein wird, vielleicht der entscheidende. Ein in Science veröffentlichtes Modell der Harvard University zeigt, dass das Virus saisonal wird. Damit wäre mit einem winterlichen Wiedererscheinen alle ein oder zwei Jahre zu rechnen, weil sich in der Bevölkerung Immunität auf- und dann wieder abbaut.

Weil so viele andere Coronaviren bei Menschen wenig anrichten, haben sie lange weniger Aufmerksamkeit bekommen als Grippe, ein veränderliches Virus, das intensiv verfolgt und genetisch analysiert wird, um jedes Jahr neue Impfstoffe zu entwickeln. Von normalen Coronaviren dagegen ist bislang nicht einmal bekannt, ob sie dem Immunsystem durch Mutationen entgehen oder ob die Immunität aus anderen Gründen begrenzt ist.

"Es gibt keine globale Beobachtung von Coronaviren", sagt Burtram Fielding, Virologe an der University of the Western Cape in Südafrika, der wissenschaftliche Berichte dazu verfolgt. "Die normale Erkältung kostet die USA 20 Milliarden Dollar pro Jahr, aber diese Viren töten nicht, und alles was nicht tötet, wird nicht überwacht."

Das von Shaman an der Columia University geleitete Global Virome Project, finanziert vom US-Verteidigungsministerium, ist eine Ausnahme. Sein Ziel ist, Atemwegsviren zu erkennen und letztlich ein "Nowcasting" zu ermöglichen: eine Echtzeit-Verfolgung von verbreiteten Infektionen in einer Stadt.

Eine der Erkenntnisse daraus ist, dass Personen, die dasselbe Coronavirus zweimal bekommen, beim zweiten Mal nicht weniger Symptome zeigen. Stattdessen blieben manche ganz ohne Symptome, andere bekamen zwei- oder dreimal eine schwere Erkältung. Laut Shaman hängt der Schweregrad tendenziell von der Familie ab, was für genetische Faktoren als Erklärung spricht.

Die große Frage lautet, was die kurzlebige Immunität bei normalen Erkältungsviren für SARS-CoV-2 bedeutet. Könnte die Krankheit zu einer Killer-Erkältung werden, immer lauernd, die jedes Jahr 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung infiziert und dabei weiterhin jeden Hundertsten tötet? Wenn dem so wäre, könnte allein das die aktuelle Wachstumsrate der Weltbevölkerung um ein Zehntel drücken.

Manche Wissenschaftler wollen über diese unheilvolle Frage nicht einmal nachdenken. Auch Shaman selbst wagt keine Voraussage über das Verhalten von SARS-CoV-2. "Es gibt einfach noch ungeklärte Fragen", schrieb er per E-Mail. "Ist es mit einer einmaligen Infektion vorbei? Wenn nicht, wie häufig kommt es zu Neuinfektionen? Und zuletzt, werden diese Neuinfektionen milder, gleich oder sogar schlimmer?".

Große Studien zur Immunität, die solche Fragen klären sollen, haben bereits begonnen. In Deutschland gibt es Pläne, die Bevölkerung auf Virus-Antikörper zu untersuchen, in Nordamerika geben 10.000 Spieler und Beschäftigte im Major League Baseball Nadelstich-Blutproben für eine Studie ab. Die US National Institutes of Health haben im April die Covid-19 Pandemic Serum Sampling Study gestartet, in der ebenfalls Blut von 10.000 Probanden untersucht werden soll.

Anhand von Tests auf Antikörper im Blut lässt sich mit solchen Studien feststellen, wie viele Menschen Kontakt mit dem Virus hatten, auch bei einem Verlauf ohne Symptome oder nur mit milden. Außerdem wollen Forscher Blut von Covid-19-Patienten daraufhin untersuchen, welcher Art und wie ausgeprägt ihre Immun-Reaktionen sind, und prüfen, ob es eine Verbindung zur Schwere der Erkrankung gibt. "Derzeit sehen wir beim Coronavirus Bedarf an Immun-Monitoring, weil manche Menschen es abschütteln und andere daran sterben", sagt Davis. "Die Unterschiede sind gravierend und niemand weiß warum."

Unser Immunsystem reagiert auf Erreger, die es noch nie gesehen hat, mit unterschiedlichen Mechanismen. Von B-Zellen produzierte Antikörper bilden eine Hülle um Viren, um Infektionen von Zellen zu verhindern. T-Zellen wiederum regulieren die Immun-Reaktion oder zerstören infizierte Zellen. Wenn eine Infektion ausgestanden ist, können langfristige "Gedächtnis"-Versionen beider Zelltypen zurückbleiben.

Welche Art von Immun-Gedächtnis wird SARS-CoV-2 hinterlassen? Für Stephen Elledge, Genetiker an der Harvard University könnte der Schweregrad der Erkrankung bedeuten, dass das Virus in dieser Hinsicht in eine andere Kategorie gehört als Erkältungen. "Eine Erkältung dauert vielleicht eine Woche; wenn man dagegen eine dreiwöchige Hölle durchmacht, könnte das ein längeres Gedächtnis entstehen lassen", sagt er.

Weitere Hinweise lassen sich aus dem Ausbruch von SARS 2002/2003 ableiten, einer Atemwegsinfektion mit noch höherer Todesrate als bei SARS-CoV-2. Sechs Jahre späten suchten Ärzte in Peking nach einer Immun-Antwort unter Überlebenden. Sie fanden keine Antikörper oder alten B-Gedächtniszellen, aber sehr wohl T-Gedächtniszellen.

Der SARS-Ausbruch konnte nach ungefähr 8000 Fällen gestoppt werden, sodass für niemanden die Gefahr bestand, sich ein zweites Mal zu infizieren. Aber die T-Zellen könnten ein Anhaltspunkt für anhaltende Immunität sein. Bei einer späteren Impfstoff-Studie mit Mäusen zeigte sich, dass die Tiere durch T-Gedächtniszellen vor den schlimmsten Folgen geschützt waren, als Forscher sie erneut mit SARS zu infizieren versuchten.

Für Frieman an der University of Maryland bedeutet all die Unsicherheit um die Immun-Reaktion auf Coronaviren, dass sich noch immer kaum voraussagen lässt, wann und wie die Epidemie enden könnte. "Ich weiß nicht, wann das aufhört. Und wenn jemand sagt, er wüsste es, dann weiß er nicht, wovon er spricht", erklärt er. (sma)